Immer mehr deutsche Fans treffen am Spielort der DFB-Elf in Polen ein. Die Stimmung auf den Zeltplätzen gleicht einem bunten Ferienlager.

Sopot. Mit der Zahnbürste in der Hand läuft Oliver jeden Morgen an seinem großen Traum vorbei. Der 22-Jährige klettert aus seinem Zelt auf dem Campingplatz „Pod Cyprysami“ und blickt beim Weg zum Duschhaus auf die Seitenscheiben seines roten Autos. Er hat es am Zelt geparkt, und an der hinteren Seitenscheibe hängt ein EM-Spielplan. Jedes Ergebnis hat er mit Kugelschreiber eingetragen, die Viertelfinalpaarungen mit Nationalflaggen aus Pappe gesteckt, und ganz oben steht: 1. Juli, Finale in Kiew. „Unsere Jungs im Endspiel, das wär’s“, sagt er.

Der 22-Jährige ist einer von tausenden Fans aus Deutschland, die sich in diesen Tagen auf den Weg nach Danzig und Umgebung gemacht haben. Sie wollen das Viertelfinale ihrer Mannschaft gegen Griechenland am Freitag (20.45 Uhr, ZDF und im Liveticker auf abendblatt.de) im Stadion erleben. Und die Partie zu einem Heimspiel machen. In Polen kann das deutlich besser gelingen als in Lemberg und Charkow/Ukraine, wo die Mannschaft in der Vorrunde spielte.

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Oliver leitet einen Schuhladen in Wilthen/Sachsen und hat sich für die Partie extra Urlaub genommen. Er ist mit seinem guten Freund Thomas (20) nach Polen gekommen, 800 Kilometer sind sie im Wechsel mit dem Auto gefahren. „Polnische Landstraßen, das dauert. Wir haben neun Stunden gebraucht“, sagt Oliver. Dienstagfrüh sind sie losgefahren, den Stellplatz für Auto und Zelt haben sie im Internet gebucht. Vor dem Zelt haben sie Windlichter in den Farben Schwarz-Rot-Gold aufgestellt. Ein Nationalelfaltar, Fußballromantik. Der Wagen ist voll mit Gepäck und Fanutensilien, quasi ein Kleiderschrank auf vier Rädern. Oliver ist Bayern-Anhänger und trägt ein Nationalmannschafttrikot mit dem Namen Badstuber auf dem Rücken, auf dem von Schalke-Fan Thomas steht Höwedes. Sie schlendern an diesem Mittag über den Campingplatz, später wollen sie noch Danzig erkunden. Am Ostseestrand waren sie schon. „Das Wetter spielt nicht so mit, aber es ist auch ohne Sonne schön“, sagt Thomas.

Ihr Campingplatz gehört einem polnischen Sänger und liegt auf der Halbinsel Hel, 80 Kilometer von dem Stadion in Danzig entfernt. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat das Gelände in dieser Woche zum „Fancamp“ umgewandelt und alle Fans eingeladen, sich hier zu treffen. Viele Anhänger gehören dem „Fan Club Nationalmannschaft“ an, den der DFB 2003 gründete und der inzwischen rund 50.000 Mitglieder umfasst.

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Sechs Mitarbeiter haben das Campinggelände in einen Spiel- und Marktplatz für große Jungs verwandelt: Vor der Rezeption steht ein Kickertisch, auf einer Wiese eine Torwand, dahinter ein kleines Spielfeld. An eine Magnettafel haben sie die Abfahrtszeiten für den Transfer nach Danzig gehängt. EM-Camp, das ist ein Mix aus Ferienlager und Auswärtsreise. Möwen kreischen, der Wind weht den Geruch des Meeres in die Zelte und Holzhütten, die Fans für knapp 80 Euro am Tag mieten können. An der Tankstelle gegenüber kaufen ein paar Deutsche für das Frühstück am nächsten Tag ein. „Am Freitag kommen noch viele Deutsche hierher, da wird die Stimmung noch besser“, sagt Oliver.

Seit Donnerstagabend sind in und um Danzig viele Deutschland-Trikots zu sehen. Allein Donnerstag landeten auf dem Flughafen drei Maschinen aus München, zwei aus Berlin, zwei aus Frankfurt und je eine aus Dortmund und Lübeck. Heute geht es weiter, dazu kommen viele mit dem Auto oder der Bahn. Wer sich eine Eintrittskarte über den deutschen Verband oder die europäische Fußballunion Uefa gesichert hat, kann seinen Gutschein in Danzig in ein Ticket einlösen. Wer keine Karte hat, muss investierten: Laut des Ticketportals Viagogo kostet eine Karte im Schnitt 271 Euro. Von allen Viertelfinalkarten sind die für das Deutschland-Spiel laut der Statistik am begehrtesten.

Auch deshalb hat der DFB vor dem Hauptbahnhof in Danzig einen Fantreff errichtet. Zum Empfang in der Stadt gibt es kostenlos Limonade und Bier. Ist ja sogar besser als zu Hause, dürfte sich mancher Fan denken. Und damit sich jeder zurechtfindet, verteilt der Verband eine Pappdrehscheibe, mit der sich die Fans die wichtigsten Sätze auf Polnisch zusammenbasteln können. Beispiele: „Er liebt das Stadion“ oder „Sie sucht Bier“. Am Freitagmittag landet eine Chartermaschine mit Oliver Pocher an Bord. Er ist Mitglied im „Fan Club Nationalmannschaft“ und wird seine Fußballhymne „Schwarz und Weiß“ singen. Volksfestatmosphäre, bevor es am Abend um den Einzug ins Halbfinale geht. Da sind Fans angespannt, ein bisschen Ablenkung vorher tut gut. Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat sich angekündigt. Er will sich über das Fanprojekt des DFB informieren und mit den 30 deutschen Polizisten sprechen, die am Freitag in Danzig im Einsatz sind.

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Zu einem Heimspiel gehört auch eine Choreographie. Beim ersten Gruppenspiel gegen Portugal (1:0) gab es Ärger, weil einige Fans das benutzte Papier danach zu Kugeln formten und auf das Spielfeld warfen. Die für Choreographien zuständige Arbeitsgruppe des „Fan Club Nationalmannschaft“ hat diesmal anderes Material verwendet. Die Männer haben es von Deutschland aus ins Fancamp gefahren und an den DFB weitergereicht. Dieser legt es dem europäischen Verband Uefa vor, der die geplante Aktion prüft – und wohl genehmigt.

Die deutschen Spieler freuen sich auf eine besondere Atmosphäre. „Es ist schön, dass wir in Danzig spielen. Dadurch haben wir keinen Reisestress, und es werden uns viele deutsche Fans unterstützen“, sagt Thomas Müller. Zwischen dem Mannschaftshotel „Dwor Oliwski“ und dem Stadion in Danzig liegen gerade mal elf Kilometer. Im Fernsehen hat der Mittelfeldspieler des FC Bayern Berichte von den Public-Viewing-Veranstaltungen in Deutschland gesehen, er war von der Stimmung begeistert. „Da war viel Begeisterung. Ich hoffe, das wird hier auch so.“

Vielleicht helfen ja auch die Polen mit. Ihre Nationalelf ist bereits ausgeschieden, für viele ist Deutschland die zweitliebste Mannschaft. Wegen Lukas Podolski und Miroslav Klose, die aus Polen stammen – und wegen des Erfolgs. Neun Punkte aus drei Spielen, das macht sympathisch. „Es ist toll für die Mannschaft und natürlich ganz besonders für mich, dass wir nun in Danzig spielen“, sagt auch Lukas Podolski. Er gibt sich volksnah, saß am freien Nachmittag mit seiner Frau Monika und Sohn Louis ganz entspannt in einem Restaurant der Fußgängerzone des Danziger Vororts Sopot.

Hier feiern jede Nacht Hunderte Jugendliche. Aus den Bars und Diskos dröhnt Hip-Hop-Musik, drinnen gibt es meist nur zwei Fragen: Wo ist die Bar? Und: Bist du Single? Doch während der EM ist Fußball überall, und nun fragen sich die Fans auch: Spielt gegen die Griechen Jerome Boateng oder Lars Bender? In der letzten Gruppenpartie gegen Dänemark (2:1) spielte Bender gut und schoss den Siegtreffer. Voraussichtlich wird Bundestrainer Joachim Löw aber auf die Erfahrung und Spielpraxis des zuletzt gesperrten Boateng setzen. „Die Griechen wollen uns in die Knie zwingen. Aber das wird ihnen nicht gelingen“, sagt Mittelfeldspieler Sami Khedira.

Sollte Deutschland gegen Griechenland gewinnen, bleibt das Fancamp bis zum Tag des Finals geöffnet. Nach Kiew sind es von Sopot rund 1200 Kilometer. Vielen deutschen Fans wäre auch das nicht zu weit. Aber Oliver denkt erst mal nur an Freitagabend. „Wir gewinnen 2:1“, sagt er. Und strahlt.