Die hochgelobten Jungstars müssen sich bei der EM in einer neuen Rolle zurechtfinden. Löw hütet sein Bank-Kapital wie die Bundesbank.

Danzig. Im Training der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist nicht zu sehen, wer die undankbare Rolle übernommen hat. Mario Götze oder Marco Reus spielen an der Seite von Mats Hummels oder Bastian Schweinsteiger. Mal ohne, mal mit orangenem Leibchen. Nur in den EM-Spielen gegen Portugal, die Niederlande oder Dänemark beziehungsweise am Tag danach wird deutlich, dass sie eine Sonderrolle spielen: Die Jungstars sind keine Haupt-, sondern Nebendarsteller. Im Wettkampf Joker, Sekundenschinder oder Zuschauer - im Training sind sie als sehr gute Sparringspartner gefordert.

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Der Frust nagt - und mit jedem weiteren EM-Spiel fällt den Bankdrückern das positive Denken schwerer. Allen voran Mario Götze: Der umschwärmte „Super-Mario“ lernt bei dieser Fußball-Europameisterschaft eine für ihn völlig neue, verstörende Situation kennen – er muss zusehen, wie andere auf dem Platz zaubern. „Ich möchte spielen, ich will Spaß haben. Gerade bei so einem Turnier, gerade auf dieser großen Bühne. Ich würde wirklich gerne zeigen, was ich kann“, sagte das 20 Jahre alte Jahrhunderttalent. Im Trikot von Borussia Dortmund und auch bei seinen ersten Einsätzen im Nationaltrikot war er meist umjubelt, umschwärmt und bestaunt worden.

In Polen und der Ukraine ist ein anderer Götze zu erleben. Nur auf dem Trainingsplatz kann er zeigen, was er draufhat, obwohl er sich nach seiner langwierigen Schambeinverletzung inzwischen selbst als hundertprozentig fit bezeichnet. Meist kommt er zusammen mit Marco Reus und André Schürrle auf dem Mountainbike zum Training geradelt, seinen zwei Leidensgenossen aus der neuen Aufsteiger-Generation.

Auch Reus wartete bislang vergeblich auf den Einsatzbefehl des Bundestrainers. Joachim Löw hatte den 23-Jährigen, der bei Borussia Mönchengladbach eine herausragende Saison gespielt hatte, sogar als Geheimwaffe für den Angriff angepriesen. „Für mich ist es brutal schwer, auf der Bank zu sitzen und nicht eingreifen zu können“, gestand der Stürmer im Wartestand, der in der Vorbereitung gut drauf war und beim 3:5 gegen die Schweiz sein erstes Tor für Deutschland erzielen konnte. „Ich kenne es nur so, dass ich auf dem Rasen gebraucht werde. Diese Situation ist für mich total ungewohnt.“

Der dritte Edeljoker, der Leverkusener André Schürrle, durfte beim 2:1 im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark immerhin erstmals für 25 Minuten auf den Platz. Ein „geiles Erlebnis“, wie er danach bemerkte. Beinahe wäre dem 21 Jahre alten Wirbelwind sogar ein Tor geglückt, was seinem Konkurrenten Lukas Podolski gelang.

„Mein Ehrgeiz ist so groß, dass ich alles versuche, Einsatzzeiten zu bekommen“, sagte Schürrle, dessen Quote von sieben Toren in 15 Länderspielen beachtlich ist. Er zündet schnell, wenn er reinkommt. Schürrle ahnt, dass er am Freitag im Viertelfinalspiel gegen die Griechen wieder „nur“ als Joker auf der Bank sitzen wird. „Man muss sein Ego hinten anstellen“, erklärte der Turnierdebütant: „Poldi hat gut gespielt, ein Tor erzielt. Aber wenn der Bundestrainer das Gefühl hat, dass er neuen Schwung braucht, bin ich immer da.“

15 Spieler wurden von Löw bislang bei der EM in Polen und der Ukraine in den drei Gruppenspielen eingesetzt. Abgesehen von den beiden Ersatztorhütern Tim Wiese und Ron-Robert Zieler haben damit noch sechs Feldspieler die Möglichkeit auf ein paar Spielminuten. Die Chancen sind nun aber gering, denn nach dem Viertelfinale am Freitag in Danzig gegen Griechenland kann schon alles vorbei sein. „Wichtig ist dabei, dass die Spieler immer das Vertrauen des Trainers verspüren, dass man ihnen immer wieder deutlich macht, dass sie zu den Auserwählten gehören“, sagte Bierhoff.

„Bei Laune halten ist schwer, wenn jemand unzufrieden ist“, sagte Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff zur schwierigen Aufgabe von Joachim Löw. Der Bundestrainer muss besonders der zweiten Garde in seinem Team, die einen Marktwert im dreistelligen Millionenbereich hat und in den jeweiligen Klubs erste Wahl ist, eine Perspektive geben.

Löw geht bislang erstaunlich zurückhaltend um mit seinem gewaltigen Bank-Kapital. Auch der hochbegabte Toni Kroos musste sich mit Kurzeinsätzen abfinden, was den 22-jährigen Münchner nervt. Der Bundestrainer versucht jedoch, die Jungstars bei Laune zu halten. Er spricht Mut zu, fordert sie im Training, macht ihnen Hoffnung.

„Ich weiß, dass wir in der Hinterhand sehr gute Spieler haben. Ich beobachte ja im Training, was ein Marco Reus, ein André Schürrle, ein Mario Götze leisten“, schilderte Löw: „Das gibt mir das Gefühl, dass ich jederzeit Veränderungen vornehmen kann. Diese Spieler haben eine gute Qualität, deswegen haben wir sie ja auch ausgesucht.“

Götze, Reus und die anderen Talente sollen auf die Perspektive WM 2014 in Brasilien schauen. Für sie ist die Reservistenrolle eine wichtige Erfahrung, um die Vorstellung und Anforderungen des Trainerteams kennenzulernen. Per Mertesacker hingegen, der seinen Platz in der Innenverteidigung an Mats Hummels verlor, hat diese Perspektive eher nicht. Der Schlaks vom FC Arsenal verhält sich dennoch als absoluter Sportsmann.

Das war bei Kevin Kuranyi nicht so. Als er im WM-Qualifikationsspiel 2008 gegen Russland in der Halbzeitpause von der Tribüne aus eigenmächtig die Flucht antrat, hatte er bei Löw nie wieder eine Chance. Rigoros war einst Franz Beckenbauer als DFB-Teamchef. Bei der WM in Mexiko 1986 schickte der Kaiser Toni Schumachers Vertreter Uli Stein nach Hause, weil dieser ihn einen „Suppenkasper“ nannte. Dass einer der heutigen Ersatzspieler so gegenüber Löw reagieren würde, ist absolut unvorstellbar.

Die Bank-Angestellten reißen sich gegenseitig mit Sprüchen und Witzen hoch. „Wenn einer meint, schlechte Stimmung verbreiten zu müssen, ist er hier fehl am Platz“, sagte Reus. Das „gemeinsame Ziel“, den EM-Titel, stellt auch Götze obenan: „Es geht hier nicht um den Spieler X oder Y.“ Doch drei komplette Spiele als Zuschauer, das kannte das Ausnahmetalent „weder aus der Jugend noch aus der Bundesliga“, wie der 20-Jährige der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sagte. Götze berichtete auch von Gesprächen mit dem Trainer: „Ich soll dran bleiben, den Kopf nicht hängenlassen“, habe Löw erklärt.

Leichter gesagt als getan. Götze spricht von einem „Lernprozess“, sucht Aufmunterung in Gesprächen mit der Familie sowie seinen Kumpels und Leidensgefährten Schürrle und Reus. Und er ist ja erst 20, hat noch einige Turniere vor sich. Aktuell ist das kein Trost. „Viele sagen jetzt zu mir, dass ich noch jung bin und meine Zukunft noch vor mir habe“, bemerkte Götze: „Aber kein Spieler, der auf der Ersatzbank sitzt, kann damit zufrieden sein, das wäre ja schlimm.“

Voraussichtliche Aufstellung: Neuer – Boateng, Hummels, Badstuber, Lahm – Khedira, Schweinsteiger - Müller, Özil, Podolski – Gomez

Mit Material von dpa und sid