Während die Offensivreihen der drei Favoriten als gleich stark eingeschätzt werden, gilt die Defensive als Schwachstelle. Löw muss experimentieren.

Tourrettes. So ohne Weiteres wollte der Bundestrainer Mats Hummels' Abwehrfehler im speziellen Viererkettentraining nicht auf sich beruhen lassen. Joachim Löw lief im Sprint quer über den abgeschotteten Trainingsplatz, packte den Dortmunder am Arm und zeigte dem Innenverteidiger mit der freien Hand an, wohin er besser hätte laufen sollen. Auch Hummels' Abwehrkollegen Per Mertesacker, Benedikt Höwedes und Marcel Schmelzer hörten den Ausführungen ganz genau zu, ehe Löw mit einem Pfiff in seine Trillerpfeife die kurze Gesprächsrunde beendete. "Weiter geht's, Jungs", rief Löw, "alle wieder auf ihre Positionen."

Nachdem die deutsche Auswahl nur einmal (beim 3:0 gegen die Niederlande in Hamburg) in den vergangenen zwölf Länderspielen ohne Gegentor geblieben ist, soll bis zum Test-Länderspiel gegen die Schweiz am Sonnabend in Basel verstärkt im Abwehrbereich gearbeitet werden - auch deswegen, weil den drei mutmaßlichen EM-Favoriten Spanien, Niederlande und Deutschland jeweils eine herausragende Offensive, aber eine anfällige Abwehrreihe nachgesagt wird. So hatte Tag sechs des deutschen Trainingslagers im endlich sonnigen Tourrettes in Südfrankreich gleich zwei Schwerpunktthemen auf der Tagesordnung: den eher überflüssigen PR-Besuch der Formel-1-Fahrer Michael Schumacher und Nico Rosberg abseits des Platzes und das eher überfällige und vor allem gezielte Defensivtraining auf dem Platz.

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"Gerade weil Spanien, die Niederlande und auch Deutschland eine so ausgezeichnet besetzte Offensive haben, wird es bei dieser Europameisterschaft mehr denn je auf die Abwehr ankommen", sagt Ex-HSV-Trainer Ricardo Moniz, der für das Abendblatt besonders die deutsche und die Viererkette von Vorrundengegner Niederlande unter die Lupe genommen hat. Beiden Mannschaften würde ein Abwehrorganisator wie seinerzeit Jaap Stam fehlen, glaubt der Taktikexperte, der am vergangenen Wochenende mit RedBull Salzburg das österreichische Double gewonnen hat. "Der Elftal fehlt die Auswahl in der Abwehr. Joris Mathijsen ist auf sich alleine gestellt", sagt der Niederländer, der aber auch das Fehlen von Carlos Puyol in Spaniens Abwehrzentrum hervorhebt: "Das könnte für Deutschland und Holland ein Vorteil sein. Puyol ist nicht zu ersetzen."

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Ein gezieltes Abwehrtraining im Lager der Deutschen ist allerdings erst ab der nächsten Woche möglich, wenn die Bayern, die mit Manuel Neuer (Tor), Philipp Lahm (links), Holger Badstuber (zentral) und Jérôme Boateng (rechts) vermutlich vier Fünftel der Abwehr stellen, dabei sind. Um den Platz neben dem gesetzten Badstuber in der Innenverteidigung kämpfen vor allem Hummels und Mertesacker. "Im Moment sieht es aus, als hätte ich ganz gute Chancen", sagt Hummels, der noch mal die Wichtigkeit einer funktionierenden Abwehrarbeit hervorhebt: "2010 ist Spanien besonders aufgrund der starken Defensive Weltmeister geworden."

Die DFB-Auswahl musste nach der WM in Südafrika dagegen 22 Gegentore in Test- und Qualifikationsspielen beklagen, von denen die meisten durch die Mitte (9) und über die linke Seite (8) vorbereitet wurden. Auch diese Statistik bestärkt Löw noch mal in seinem Vorhaben, Lahm weiterhin links statt rechts spielen zu lassen, obwohl er auf der rechten Abwehrseite mit Boateng, Höwedes und seit neuestem auch noch mit Lars Bender keinen gelernten Außenverteidiger zur Verfügung hat. "Wir haben uns in der Defensive bei Turnieren immer gut geschlagen und haben jedes Mal ein gutes Gefühl für den Nebenmann entwickelt", sagt Mertesacker im Gespräch mit dem Abendblatt, "am Ende ist der Schlüssel zum Erfolg sowieso nur der, dass wir als Mannschaft insgesamt funktionieren."

Per Mertesacker "Ich will eine Stütze sein"

Ganz ähnlich sieht das auch Moniz, der an alte Tugenden appelliert. "Abwehrarbeit ist auch Kopfarbeit", sagt der frühere HSV-Techniktrainer, "in der Defensive braucht man mentale Stärke." Moniz erinnert daran, dass die niederländische Mannschaft auch ohne Abwehrrecken ins Finale bei der WM 2010 einzog, "aber besonders beim Testspiel in Hamburg habe ich von diesem Willen nicht mehr viel gesehen. So kann man in der Abwehr nicht agieren." Trotzdem will Bondscoach Bert van Marwijk bei der EM auf die unumstrittenen Innenverteidiger Mathijsen und Johnny Heitinga sowie auf die ziemlich umstrittenen Außenverteidiger Gregory van der Wiel (rechts) und Alexander Büttner (links) setzen.

Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque hat dagegen noch nicht entschieden, ob er den verletzten Puyol durch Raúl Albiol oder durch Sergio Ramos ersetzen will. Bereits seit 2006 als Linksverteidiger gesetzt, ist Joan Capdevila genauso wie Gerard Piqué im Zentrum. Sollte Ramos von rechts nach innen rücken, hätte auch Álvaro Arbeloa gute Einsatzchancen.

Äußerst effektives Abwehrverhalten demonstrierten gestern die Formel-1-Piloten Schumacher und Rosberg, die die mediale Offensive am Trainingsplatz gekonnt konterten. Lediglich die Vorführwagen des DFB-Sponsors sollten in Szene gesetzt werden, Schumacher und Rosberg selbst hatten offenbar weder Lust noch Zeit für das sonst übliche Frage-und-Antwort-Spielchen. Nach gerade mal einer Viertelstunde waren die beiden Rennfahrer verschwunden, das anschließende Abwehrtraining haben sie nicht gesehen. Gebraucht hätten sie es ohnehin nicht.

Abendblatt-Redakteur Kai Schiller schreibt täglich aus Südfrankreich einen Brief an Hamburg www.abendblatt.de/schillersbriefe