Eine sehr junge deutsche Nationalmannschaft verzaubert ein ganzes Land. Ob sie reif für den Titel ist, wird erst das Spiel gegen Argentinien zeigen.

Erasmia. Miroslav Klose hat ein Verkaufsproblem. Als der Stürmer des FC Bayern von seiner großen Freude erzählte, nach seinem zwölften WM-Tor mit Pelé gleichgezogen zu haben und nun vor seinem 100. Länderspiel zu stehen, hob sich seine Stimme kaum, die Körperhaltung blieb steif. Er war eben noch nie Lautsprecher der Marke Matthäus. Vielleicht ist aber gerade diese defensive öffentliche Haltung eine der großen Stärken dieser Mannschaft. "Das ist schon was Großartiges, gleichauf mit dieser brasilianischen Legende zu sein", sagte Klose, "aber ich bin noch nicht am Ende. Da soll noch das eine oder andere dazukommen."

Noch viermal schlafen, dann wartet auf den Bayern-Stürmer und die Nationalmannschaft mit Argentinien in Kapstadt (Sonnabend, 16 Uhr/ZDF) die nächste, noch höhere Hürde. Nur noch zwei Siege fehlen bis zum Einzug ins Finale am 11. Juli in Johannesburg. Natürlich, von Anfang an war es das erklärte Ziel von Joachim Löw, an diesem Datum noch in Südafrika zu verweilen, aber Gedanken an den vierten Titelgewinn gehörten eher in die Abteilung Wunschträumerei - erst Recht nach dem großen Verletzungspech.

Als Hauptsponsor Mercedes-Benz die Kampagne "vierter Stern" ins Leben rief - für jeden Titelgewinn darf sich das Nationaltrikot mit einem Stern schmücken - war Löw dem Vernehmen nach gar nicht begeistert. Doch inzwischen verzaubert seine junge Mannschaft ein ganzes Land und widerlegt sämtliche Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die mit Variablen wie Erfahrung oder individueller Klasse hantieren.

Sicher, in die Analysen nach dem England-Spiel gehören auch die kluge, von Löw ausgegebene taktische Ausrichtung mit einem etwas tiefer agierenden Klose oder auch das geschickte Konterspiel. Am Ende aber reduziert sich Fußball auf einfache Wahrheiten wie die, dass sich die Klasse einer Mannschaft nicht automatisch durch das Zusammenrechnen der einzelnen Teile, also der Spieler, ergibt. "Ich hätte gedacht, dass die Engländer mit dem Messer zwischen den Zähnen auf den Platz kommen", wunderte sich Klose, "aber nach fünf Minuten wusste ich, dass das nicht der Fall war. Ich hatte nicht das Gefühl, dass bei denen ein Team, eine Einheit auf dem Platz war."

Auch wenn sich Argentinien in der Defensive bisher durchaus verwundbar präsentierte, so erscheint die Vorstellung, dass gegen die Südamerikaner ein solches Kick-(Abschlag Neuer)-and-Rush-(Klose)-Tor wie am Sonntag gelingt, kaum vorstellbar. Bei allem Glanz des Nachmittags von Bloemfontein wird erst das Kräftemessen mit Argentinien zeigen, ob die Deutschen wirklich dazu in der Lage sind, nach dem vierten Stern zu greifen, es wird ein Titeltest der schwierigsten Kategorie.

Und auch für Löw und sein Betreuerteam um Scout Urs Siegenthaler heißt es, die richtige Taktik gegen das Team von Diego Maradona zu entwickeln. Dabei könnte es durchaus Parallelen geben im Vergleich zum England-Spiel, als die Nationalspieler angehalten waren, den Gegner bis zur Mittellinie spielen zu lassen, mit der Abwehrreihe aber relativ "hoch" zu stehen und den Offensiven damit wenig Raum zu lassen, vor allem Lionel Messi, dem derzeit wohl besten Fußballer der Welt. Zugleich bietet sich in der Vorwärtsbewegung eine ähnliche Strategie an, schließlich zeigten sich die Argentinier im bisherigen Turnierverlauf bei schnell vorgetragenen Angriffen anfällig in der Defensive.

Fest steht jedoch, das der Weg der DFB-Auswahl bei diesem Turnier kaum schwerer sein könnte. "Wir haben wirklich ein hartes Programm", blickte Arne Friedrich auf die kommenden Prüfungen. In einem etwaigen Halbfinale käme es entweder zu einer Neuauflage des EM-Endspiels von 2008 gegen Spanien oder dem EM-Viertelfinale gegen Portugal. Und ein möglicher Endspielgegner könnten die Niederlande sein oder Rekordchampion Brasilien, das ebenfalls noch ungeschlagen ist.

Bei früheren, erfolgreich bestrittenen Turnieren profitierten deutsche Mannschaften dagegen vom Losglück oder einem günstigen Turnierverlauf - wie bei der WM 2002, als mit einer im Vergleich zu heute limitierten Mannschaft das Endspiel nach K.-o.-Runden gegen Paraguay, die USA und Südkorea erreicht wurde. Oder 1974. Günter Netzer rühmt sich noch heute damit, dass er entscheidend mithalf, dass bei der Heim-WM der Titelgewinn gelang, weil er beim 0:1 gegen die DDR auf dem Platz stand. Deutschland wurde nur Gruppenzweiter, ging in der Zwischenrunde Brasilien, den Niederlanden und Argentinien aus dem Weg und schaffte mit Siegen gegen Jugoslawien, Schweden und Polen den Finaleinzug (s. Tabelle).

Sami Khedira sind jedoch solche Gedanken fremd. "Wer Weltmeister werden will, muss jeden Gegner schlagen", erwiderte er lässig die Nachfrage nach dem schweren Programm. "Wir beschäftigen uns ausschließlich mit Argentinien und nicht damit, was vielleicht noch passieren kann." Aber wer weiß, vielleicht findet er diese Woche ja noch einmal die Gelegenheit, mit Michael Ballack über Vergangenes und Zukünftiges zu plaudern. Der Neu-Leverkusener hat für Donnerstag seinen Besuch im DFB-Quartier angekündigt und machte erst durch seine Verletzung Platz für Khedira. Sein Besuch beweist Größe. Schließlich muss der "Unvollendete", der 2002 WM-Zweiter, 2006 WM-Dritter und 2008 EM-Vize wurde, zuschauen, wie das Team womöglich ohne ihn zum vierten Stern greift.

Doch auch wenn der ganz große Coup nicht gelingen sollte, fehlt nur noch ein Sieg bis zum Feiern am Brandenburger Tor. Sollte die DFB-Elf das Halbfinale erreichen, werden sich die Spieler auf jeden Fall am Brandenburger Tor mit den mitfiebernden Fans zur Nachfeier treffen.