Vor 16 Jahren holte Deutschland den letzten Titel. Thomas Helmer, Europameister von 1996, über den großen Triumph und eine bescheidene Feier.

Hamburg. Als Thomas Helmer beim Abendblatt-Termin in Winterhude Fotos vom EM-Triumph 1996 durchblättert, tippt er als erstes auf die Schuhe. "Das waren noch Zeiten", sagt der Nationalspieler. Und in der Tat: Während heutzutage ein Wettrennen zu laufen scheint, wer die exzentrischsten Treter überstreifen darf, trugen 1996 alle Nationalspieler den schwarzen Drei-Streifen-Einheitsschuh. Der Kanzler hieß Helmut Kohl, der Euro war so fern wie Public Viewing - und es gab noch ein Golden Goal. Das schoss Oliver Bierhoff im Londoner Wembleystadion zum 2:1 in der Verlängerung des Finals gegen Tschechien und machte Deutschland zum Europameister - der vorerst letzte Titel der Nationalmannschaft.

Hamburger Abendblatt: Herr Helmer, was ist Ihre ganz persönliche Erinnerung an das berühmteste Golden Goal der Fußballgeschichte?

Thomas Helmer: Ich weiß noch, dass ich zunächst gar nicht realisiert habe, dass wir jetzt Europameister sind. Der Ball kullerte nach dem Schuss von Oliver Bierhoff irgendwie ins Tor, sodass ich zunächst dachte, der Torwart lässt ihn absichtlich rein, weil zuvor Abseits gepfiffen wurde. Auch die Spieler und Trainer auf der Bank haben zunächst nicht richtig gejubelt. Es hat ein paar Sekunden gedauert, bis wir begriffen: Es ist vorbei. Das Spiel wird nicht wieder angepfiffen. Niemand war ja mit der Golden-Goal-Regel wirklich vertraut.

Und ausgerechnet der eingewechselte Oliver Bierhoff wurde in seinem achten Länderspiel mit zwei Toren zum Helden. Ihn hatte niemand auf der Rechnung.

Helmer: Das stimmt so nicht. Ich war mit Olli am Tag vor dem Turnier laufen und habe ihm gesagt, du kannst morgen, wenn du reinkommst, das alles entscheidende Tor machen.

In dieser Mannschaft wurde in der Tat jeder gebraucht angesichts des unfassbaren Verletzungspechs.

Helmer: Das stimmt, gleich im ersten Spiel des Turniers gegen Tschechien musste unser Kapitän Jürgen Kohler mit einer schweren Knieverletzung raus. Später erwischte es Steffen Freund. Ich weiß noch, wie sein Knie punktiert wurde und das Blut aus dem Gelenk tropfte. Steffen wusste, alles ist vorbei, und war völlig fertig. Jürgen Klinsmann war mit einem Muskelfaserriss außer Gefecht. Boris Becker hat uns dann noch total frustriert Gesellschaft geleistet. Er musste mit einer Handverletzung in Wimbledon aufgeben.

Auch für Sie war das Turnier nach einer Knieverletzung, erlitten im Vorrundenspiel gegen Italien, eigentlich beendet.

Helmer: Ohne die medizinische Abteilung wären wir damals nicht Europameister geworfen. Wir wurden Tag und Nacht behandelt. Im Halbfinale gegen England musste ich dann in der Verlängerung raus. Ich konnte einfach nicht mehr laufen.

Was Ihnen den Gang zum Elfmeterpunkt beim Elfmeterschießen ersparte.

Helmer: Ich saß damals hinter Berti Vogts auf der Ersatzbank. Kuntz, Häßler, Reuter und Ziege waren unsere gesetzten Schützen. Klinsmann konnte nicht, weil er verletzt war. Berti fragte mich: Wer ist unser fünfter Schütze? Ich habe ihm Thomas Strunz vorgeschlagen. Berti war skeptisch, weil Thomas erst in der 119. Minute eingewechselt worden war und keine einzige Ballberührung hatte. Doch dann hat er in der Pause vor dem Elfmeterschießen ein bisschen mit dem Ball gedaddelt und eiskalt verwandelt. Wobei ich es im Stadion gar nicht gesehen habe.

Wieso?

Helmer: Ich stand mit dem Rücken zum Tor, auf das geschossen wurde, und habe nur auf die Miene von Erich Rutemöller geachtet. Als er nach dem verwandelten sechsten Elfer von Andreas Möller jubelte, wusste ich, wir sind im Finale. Wirklich richtig gesehen habe ich die Elfer erst später im Fernsehen. Genau wie im Finale das Golden Goal durch Bierhoff.

Anschließend kam Kanzler Helmut Kohl zum Gratulieren in die Kabine.

Helmer: Stimmt, er stand vorne mit Berti. Ich habe damals scherzhaft gesagt, mit ihm war die Kabine schon voll. Wir Spieler saßen im anderen Trakt bei den Duschen und haben gefeiert. Gemeinsam haben wir mit dem Kanzler dann noch einen Whisky getrunken.

Wie war die Nacht nach dem Triumph?

Helmer: Ganz ehrlich? Ziemlich bescheiden. Wir sind in unser Londoner Hotel gefahren, dort war ein nüchterner Raum vorbereitet. Es dauerte ewig, bis es etwas zum Trinken gab. Und dann haben uns die ziemlich unfreundlichen Kellner gesagt, dass wir jetzt gehen müssen, da sie den Raum am nächsten Tag für eine Veranstaltung brauchen.

Womöglich die späte Rache für den deutschen Sieg im Halbfinale über England.

Helmer: Das denke ich auch. Wir sind dann auf die Zimmer und haben die Minibars geleert. Aber irgendwie war die Stimmung raus und wir sind schlafen gegangen.

War es der Sieg einer sehr harmonischen Mannschaft?

Helmer: Die Verletztenmisere hat uns weiter zusammengeschweißt. Wir wussten ja, es kommt auf jeden an. Konflikte haben wir unter uns geregelt. Da hat uns Berti freie Hand gelassen.

In der Vorbereitung auf das Turnier gab es großen Stress mit dem damals verletzten Lothar Matthäus, der seinem Intimfeind Jürgen Klinsmann damals schwere Intrigen vorwarf. Sie haben mit einem scharfen Brief an die Chefetage des FC Bayern reagiert und einen entsprechenden Strafenkatalog eingefordert.

Helmer: Nicht ich allein, sondern wir sieben Nationalspieler des FC Bayern bei diesem Turnier. Dabei kam ich mit Lothar eigentlich gut aus. Wir saßen in der Kabine immer nebeneinander. Aber ich habe gesehen, dass Jürgen und Lothar einfach nicht miteinander klarkommen, und habe dann auch öffentlich gefordert, dass einer von beiden im Interesse des FC Bayern gehen muss. Aber das Fehlen von Lothar bei der EM war nicht ausschlaggebend dafür, dass wir Europameister wurden.

Stefan Effenberg war schon zwei Jahre zuvor mit seiner Stinkefinger-Aktion bei der WM in den USA gefeuert worden.

Helmer: Das war auch so eine Geschichte. Berti und der damalige DFB-Präsident Egidius Braun wollten damals von den Familienvätern im Team wissen, ob Effe unter Vorbild-Gesichtspunkten noch tragbar für das Team ist. Ich habe damals nur gesagt, dass ich nicht dazu beitragen werde, dass ein Kollege gehen muss. Das hätte man alles auch anders lösen können.

Wie war Berti Vogts eigentlich so als Bundestrainer?

Helmer: Fachlich und menschlich ein Top-Mann. Probleme hatte er nur oft in der Außendarstellung. Aber das weiß er selbst am allerbesten.

Und das Niveau der Europameister-Mannschaft?

Helmer: Wir wussten vorher, dass wir spielerisch die Gegner nicht auseinandernehmen können. Wir hatten ja schon in der Vorrunde bei unseren Siegen gegen Tschechien (2:0) und Russland (3:0) ziemlich Glück. Aber die Mischung hat einfach gestimmt. Richtig gute Fußballer wie Scholl, Möller oder Häßler, aber auch Typen wie Eilts und Freund, die mal dazwischenfegen.

Wie fällt Ihr Vergleich mit der aktuellen deutschen Mannschaft aus, die 16 Jahre später den EM-Titel in Polen und der Ukraine holen will?

Helmer: Spielerisch ist sie uns überlegen, vor allem die Offensivkräfte sind überragend. Auch von der Physis her sehe ich keine Probleme. Spannend wird, ob sie in ganz engen Spielen die letzten Prozente abrufen kann. Das ist dann alles eine mentale Sache.