Auch wenn wir Deutschland die Daumen drücken - für Europa gäbe es bessere Gewinner

Echte Freunde werden die Politik und der Sport nicht mehr. Ob Olympia 1936 in Berlin, die Fußball-Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, die Olympischen Rumpfspiele von Moskau 1980 oder Los Angeles 1984 - zu oft wurden große Turniere von Diktatoren oder Militärjuntas missbraucht oder zur Waffe im Kalten Krieg. Da ist es gut und richtig, derlei Turniere wieder stärker auf den Sport zu reduzieren und unangemessene Boykott-Forderungen schon im Vorfeld eines Turniers abzuschmettern.

Und doch gibt es politische Dimensionen, die sich weder wegdiskutieren noch steuern lassen und beträchtliche Auswirkungen auf die Stimmungs- und Wirtschaftslage ganzer Nationen haben: In den vier Wochen eines großen Turniers regiert in vielen Staaten König Fußball, zuvor große Themen schrumpfen vorübergehend auf die Größe von Petitessen. Stattdessen kommen Rivalitäten ans Licht, die überwunden schienen - vielleicht sucht sich der latente Chauvinismus ein Ventil, das alle zwei Jahre einmal sozial toleriert wird. Ein Europa, das seit 1945 größtenteils im Frieden lebt, darf sich derlei spielerische Scharmützel leisten.

Größer als die Gefahren sind die Chancen. Der Fußball vermag Nationen aufzurichten, die krisengeschüttelt und gramgebeugt sind: Das "Wunder von Bern" etwa schenkte den Deutschen 1954 neues Selbstvertrauen; die Titel der Franzosen 1998 und 2000 gaben der Binnenkonjunktur einen Schub. Es gibt seriöse Studien, die einen volkswirtschaftlichen Effekt von einem Prozentpunkt Wachstum für den Sieger ermitteln. Getreu dem Motto Ludwig Erhards, Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie, ist ein Titel also schon die halbe Miete.

Deshalb könnte es aus dem Blickwinkel des Volkswirts für das darbende Europa besser sein, wenn die Krisenstaaten aus dem sogenannten PIIGS-Klub bei der EM Erfolge feiern: Mit Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien sind alle dabei. Möglicherweise könnte schon eine gute Vorrunde ihrer Elf die Griechen von dem Harakiri abhalten, sich am 17. Juni aus dem Euro und ins Verderben zu wählen.

Ein EM-Titel dürfte gerade das erschütterte Selbstwertgefühl der Spanier, Italiener und Portugiesen aufrichten: Da die Portugiesen nur eine kleine Ökonomie in der Währungsunion stellen und sich bereits unter den Rettungsschirm geflüchtet haben, wären Jubelfeiern in Lissabon am Ende kaum "systemrelevant". In Italien und Spanien sieht das anders aus - vor dem Hintergrund der Schieflage spanischer Banken und der desolaten Binnenkonjunktur müssten Volkswirte eigentlich dem Titelverteidiger die Daumen drücken. Zumindest aber sollte man sich wünschen, dass die Mannschaften der Krisenstaaten bei der Euro 2012 lange im Rennen bleiben, damit die Regierungen im Windschatten des Fußballs unpopuläre Reformen angehen.

Auch für Deutschland-Fans gibt es einen Überbau, der uns politisch korrekt jubeln lässt: Sollten Jogis Jungs das Finale in Kiew gewinnen, dürften Soziologen dies als Sieg der multikulturellen Gesellschaft feiern. Anders als bei den - inzwischen lange zurückliegenden - Titeln einer deutschen Elf gewännen dann nicht Maier und Schuster, sondern Müller und Özil. Und weil die Türken die Endrunde verpasst haben, jubeln auch die Migranten schwarz-rot-gold: Das wäre für die Integration und das Miteinander in Deutschland vermutlich nachhaltiger als jede Großdemonstration oder Millionenkampagne.

Natürlich sollte man den Fußball nicht überfrachten - die Mannschaften führen keine Stellvertreterkriege im Stadion, und Sport muss Sport bleiben. Gleichwohl sollte man die Wechselwirkungen nicht unterschätzen. In diesem Sommer könnte Europa 16 Gewinner gebrauchen - leider ist das gegen die Spielregeln.