Der Welt- und Europameister hat von gescheiterten Favoriten gelernt und gibt sich vor dem ersten Auftritt am Sonntag bescheiden.

Gniewino. Die zentrale Botschaft erschließt sich buchstäblich auf den ersten Blick. Der wandert wie überall bei großen Sportveranstaltungen auch im EM-Quartier der Spanier notgedrungen über Zäune, und an diese hat der Verband ein paar bunte Plakate hängen lassen. "Geschichte gewinnt keinen Titel, Bescheidenheit schon", steht darauf. Oder: "Geschichte bremst keinen Rivalen, Konzentration schon".

Erstmals geht Spanien als Welt- und Europameister in ein Turnier, auch abgesehen von den Aushängen lässt sich dabei festhalten: Wenn irgendeiner aufgrund der vergangenen Erfolge abzuheben drohte, dürfte er inzwischen gelandet sein.

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Jedenfalls, so er mit nach Gniewino gekommen ist. Das Dorf eine gute Stunde nordwestlich von Danzig hat nicht mal einen Bahnhof und auch sonst keine Attraktion außer seiner Stille. Das auf einem sanften Hügel gelegene Teamhotel Mistral, ein Flachbau mit geschwungener Terrasse und ein paar Fußballplätzen darunter, wird von den Spielern bevorzugt als funktional beschrieben. "Hätten wir Urlaub, wären wir am falschen Platz", sagt der normalerweise etwas mehr Glamour gewohnte Barcelona-Verteidiger und Shakira-Freund Gerard Piqué. "Aber da wir nun mal hier sind, warum wir hier sind, sind die Einrichtungen perfekt."

Spanien und sein bodenständiger Nationaltrainer Vicente del Bosque, so scheint es, haben vor ihrem EM-Auftaktspiel am Sonntag gegen Italien (18 Uhr/ZDF) klar analysiert, woran Favoriten in der Fußballgeschichte gescheitert sind: Überheblichkeit, Siegesgewissheit, Hybris. Die Franzosen von 2002 kommen einem in den Sinn, die ebenfalls als Welt- und Europameister anreisten, sich dann in den Kasinos vergnügten und nach der Vorrunde ohne Treffer nach Hause geschickt wurden.

Oder zuletzt die Brasilianer 2006. Mehr Favorit geht nicht, hieß es damals über das magische Quartett mit Ronaldinho, Kaka, Adriano, Ronaldo. Auf ernsthaftes Training meinten sie deshalb verzichten zu können. Im Viertelfinale war dann Schluss, eher zu spät angesichts bedrückend pomadiger Darbietungen.

Den Status als Nummer eins des Weltfußballs, der damals noch Brasilien zugeschrieben wurde, hat inzwischen Spanien übernommen - und dabei geht es gar nicht mal in erster Linie um die harten Faktoren. Es geht um die Art, Fußball zu spielen, diesen Sport mehr erscheinen zu lassen als ein Gesamtprodukt von Technik, Athletik und Organisation. "Jogo Bonito", schönes Spiel, oder "Futebol-Arte", Kunstfußball, hieß das bei den Brasilianern. "Tiki-taka" heißt es jetzt bei ihren Nachfolgern.

Den Ausdruck kennt das spanische Fußballvokabular seit den 1950er-Jahren, als ein baskischer Trainer seine Spieler lautmalerisch aufforderte, den Ball schnell und mit der ersten Berührung durch die eigenen Reihen wandern zu lassen. Zur dominanten Spielweise der zuvor wenig stilsicheren "Seleccion" wurde dieses Kurzpassspiel jedoch erst in der Amtszeit von Luis Aragones (2004 bis 2008). Inzwischen haben es die Spieler komplett verinnerlicht; selbst bei einem Training kann spektakulär anzuschauen sein, mit welch Geschwindigkeit und Präzision der Ball seinen Besitzer wechselt.

Alle Gegner bei großen Turnieren haben sich zuletzt in diesem Netz von Pässen verfangen - und immer mehr orientieren sich nun selbst daran. Xavi, der Kapellmeister des spanischen Orchesterfußballs, sagte kürzlich, er halte diesen Umstand für bedeutsamer als die errungenen Titel. "Wir haben die anderen mit der Idee infiziert, Fußball spielen zu wollen und nicht bloß zu spekulieren." Sportlich halten sich die Spanier für relativ unangreifbar, "wir haben die besten Spieler der Welt", betonte Flügelmann Pedro, und für die richtige Einstellung gibt es notfalls die Plakate - aber deshalb ist noch nicht alles eitel Sonnenschein in Gniewino. Am Donnerstagmorgen erwachten die Spieler mit der Nachricht vom tödlichen Herzinfarkt des in Spanien hoch geschätzten Trainers Manolo Preciado, der tragischerweise just als neuer Trainer in Villarreal vorgestellt werden sollte. Jenseits der Trauer gibt es außerdem noch ein paar sportliche Ungewissheiten, die mit den verletzungsbedingten Ausfällen von David Villa und Carles Puyol zu tun haben.

Sie allein verhindern, dass der auf Stetigkeit bedachte del Bosque überhaupt etwas an der Architektur der WM-Elf ändern muss. Für Innenverteidiger Puyol wird Sergio Ramos von rechts in die Zentrale rücken; eine Position, die er mittlerweile auch und gut bei Real Madrid ausfüllt. Problematisch ist eher, dass seinen früheren Arbeitsplatz jetzt Klubkollege Alvaro Arbeloa übernimmt; der verteidigt zwar solide, ist offensiv aber eher unspanisch unterwegs. Kaum Sorgen bereitet Jordi Alba auf links hinten. Der begabte Turnierneuling vom FC Valencia ersetzt den unscheinbaren Joan Capdevila.

Schlagzeilenträchtiger ist das Puzzle im Angriff. Wird bedacht, dass Villa in Südafrika fünf der acht spanischen Tore erzielte, ist es potenziell auch der größere Knackpunkt für die spanischen Titelchancen. Fernando Torres hat zuletzt wieder ansteigende Form bewiesen und mit Chelsea die Champions League gewonnen, del Bosque kokettiert aber auch mit einem Einsatz von Alvaro Negredo (FC Sevilla), den allerdings nicht alle Beobachter so schätzen wie er. Schließlich bleibt die Option, ohne Mittelstürmer anzutreten und dafür das offensive Mittelfeld auf Anschlag zu beladen. Xavi, Iniesta, Silva, Mata, Fabregas - genügend "Tiki-Taka" gibt es dafür allemal.

Spanien: 1 Casillas - 17 Arbeloa, 15 Ramos, 3 Piqué, 18 Jordi Alba - 16 Busquets, 14 Xabi Alonso - 21 Silva, 8 Xavi, 6 Iniesta - 9 Torres. Italien: 1 Buffon - 3 Chiellini, 16 De Rossi, 19 Bonucci - 2 Maggio, 21 Pirlo, 5 Motta, 8 Marchisio, 13 Giaccherini - 9 Balotelli, 10 Cassano. Schiedsrichter: Kassai (Ungarn).