Hamburg. Geisterspiele, Corona-Blasen und Training per Video: Bewegung wurde im Pandemie-Jahr zum hohen Gut – und zur Gefahr für die Gesundheit.

Als wir vor ziemlich genau zwölf Monaten an dieser Stelle einen Ausblick auf die "Sport-Highlights des Jahres 2020" wagten, wähnten wir große Ereignisse vor uns: die erste paneuropäische Fußball-EM, Olympische Spiele in Tokio und natürlich die immer wiederkehrenden und trotzdem nie langweilenden Hamburger Klassiker: Marathon und Cyclassics, Triathlon und Ironman, die Pferdesport-Derbys, Tennis am Rothenbaum, die Handball-Pokalendrunde und, und, und.

Bekanntlich kam alles ganz anders: Von den vielen Veranstaltungen auf dem Kalender fand kaum eine statt, und wenn doch, dann oft an einem anderen Ort, zu einem anderen Termin, unter ganz anderen Umständen. Wo es sonst vor allem um Bewegung geht: nur Stillstand. Menschen zusammenzuführen, auf dem Spielfeld, auf der Tribüne, in Turnhallen und Fitnessstudios: All das, was das Wesen und die Kraft des Sports ausmacht, ist in der Pandemie plötzlich zur tödlichen Gefahr geworden.

Nähme man also die Ereignisse zum Maßstab, wäre das Sportjahr 2020 vergleichsweise schnell erzählt: Tausendmal ist nix passiert. An die wenigen Ausnahmen wollen wir nicht unbedingt gern zurückdenken. Aber wir haben in den vergangenen zehn Monaten auch neu nachgedacht über das, was uns als Konsumenten der Sport bedeutet – und wir dem Sport. Und wir haben ganz neue Begriffe lernen müssen.

Geisterspiel: Das neue Gefühl der Leere

Ein Freitag, der 13. im März: Der HSV will gerade vom Hotel in Nürnberg aus zum Stadion der SpVgg Greuther Fürth aufbrechen, als die Deutsche Fußball-Liga ein Dokument veröffentlicht, das schon jetzt historisch ist. Überschrift: „Nach aktuellen Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Coronavirus: DFL beschließt Verlegung des 26. Spieltags der Bundesliga und der 2. Bundesliga.“

Das Coronavirus hat inzwischen auch in Deutschland so weit um sich gegriffen, dass selbst Spiele ohne Zuschauer zu gefährlich erscheinen. Noch zwei Tage zuvor hat die Bundesliga das erste Geisterspiel ihrer Geschichte riskiert. Gladbach gewann in Köln das wohl friedlichste rheinische Derby aller Zeiten.

Ein Bild, das später Normalität wird: Der FC St. Pauli bestreitet im Mai im Millerntor-Stadion gegen den 1. FC Nürnberg das erste Geisterspiel seiner Geschichte.
Ein Bild, das später Normalität wird: Der FC St. Pauli bestreitet im Mai im Millerntor-Stadion gegen den 1. FC Nürnberg das erste Geisterspiel seiner Geschichte. © WITTERS | Tim Groothuis

Erst gut zwei Lockdown-Monate später, als die Liga den Spielbetrieb wiederaufnimmt, wissen auch die Profis des HSV und des FC St. Pauli, wie es sich anfühlt, ein Punktspiel ohne Fans zu bestreiten.

Notbetrieb: Die Spiele müssen weitergehen

Die ausbleibenden Einnahmen haben viele Profivereine schon nach wenigen Wochen an den Rand des Ruins geführt. Die Liga will die Saison auf Biegen und Brechen zu Ende spielen, um wenigstens die TV-Gelder verteilen zu können. Die Spiele müssen weitergehen – und die Politik gibt ihren Segen.

Fußball-Bundesliga: "Geisterspiele" ab zweiter Maihälfte

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    Der Bundesliga-Fußball wird damit zum Vorbild in Europa. Obwohl mancher Profi auf die Abstandsregeln pfeift, bleiben größere Ausbrüche aus. Nur Dynamo Dresden hat Pech: Weil das Virus in der Mannschaft um sich greift, ist der Zweitligaclub erst zum Zuschauen verurteilt und muss dann ein knallhartes Programm abspulen. Am Ende steht der Abstieg.

    Fußball ohne Fans: Das geht schon irgendwie, auch wenn den Spielern die Atmosphäre fehlt und den Vereinen die Ticketeinnahmen. Doch das ausgeschlossene Publikum will plötzlich auch aus der Ferne nicht mehr unbedingt teilhaben. Die TV-Quoten bleiben trotz der langen Pause unter Vor-Pandemie-Niveau, erst recht bei den Spielen der Nationalmannschaft, die im Herbst in der Nations League ein historisches 0:6-Debakel in Spanien erleben wird.

    Ist es, weil die Menschen gerade andere Probleme haben, von denen sie gar nicht abgelenkt werden wollen? Weil Tore ohne Jubel keinen Spaß machen? Oder weil der Fußball ihnen gerade gezeigt hat, dass sie in diesem Millionen-Schauspiel nur Statisten sind?

    Immerhin: Der Fußball gewährt uns plötzlich Einblicke, die wir ohne Pandemie nie bekommen hätten. Die Stadionmikrofone fangen jedes Kommando, jede Beleidigung, jedes aufmunternde Wort auf dem Feld ein. Nach dem Champions-League-Sieg des FC Bayern wird es heißen, dass er auch ein Sieg der Kommunikation war, weil sich die Münchner untereinander besser verständigt hätten als der Finalgegner Paris Saint-Germain.

    Der FC Bayern jubelt über den Champions-League-Sieg 2020.
    Der FC Bayern jubelt über den Champions-League-Sieg 2020. © dpa | Julian Finney

    Corona-Blase: Eine Projekt gerät zum Fiasko

    Erstmals wird die K.-o.-Runde der Champions League als Finalturnier an einem Ort, der portugiesischen Hauptstadt Lissabon, ausgetragen. Es geht gut, mehr noch: Der Modus ohne Hin- und Rückspiel sorgt trotz fehlender Fans für eine besondere Dramaturgie. Er könnte zum Modell für die Zukunft werden – aber ach, es drohen ja Einnahmen verloren zu gehen.

    Die Corona-Blase, auch eines dieser (Un-)Wörter des Jahres, hält in Lissabon weitgehend. Spieler bleiben unter sich, Kontakte werden minimiert, strenge Regeln eingehalten, intensiv getestet. Nach diesem Modell hat es zuvor schon die Basketball-Bundesliga geschafft, ihre Saison noch zu Ende zu bringen. Allerdings ohne die Hamburg Towers: Der Aufsteiger erweist sich in seiner Premierensaison als (noch) nicht Bundesliga-tauglich. Der Abstieg bleibt den Wilhemsburgern wohl nur deshalb erspart, weil die Saison nicht wie geplant zu Ende gespielt werden kann.

    Woanders ist die Blase jäh geplatzt. Der serbische Tennis-Star Novak Djokovic lädt im Sommer einige seiner Kollegen zur Adria-Tour, einer Turnierserie quer durch den Balkan. Sie gerät zum Desaster. Nachdem sich mehrere Profis, unter ihnen Djokovic selbst, infiziert haben, muss die Adria-Tour abgebrochen werden.

    Auch der Hamburger Alexander Zverev ist unter Djokovics Gästen, auch er fällt durch arge Sorglosigkeit auf.

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    Von einer Infektion allerdings bleibt Zverev offenbar verschont. Mit ein bisschen Abstand wird er sein Bedauern über sein wenig vorbildhaftes Verhalten äußern.

    Ohne Maske: Zverevs Gefühlsausbruch in New York

    Für sein sportliches Abschneiden 2020 braucht sich Zverev nicht zu entschuldigen. Bei den Australian Open erreicht er Anfang des Jahres das Halbfinale, Corona scheint zu diesem Zeitpunkt noch weit weg. Wenn die Menschen in Melbourne trotzdem Masken tragen, dann um den Rauch der nahen Buschbrände nicht einzuatmen.

    Bei den US Open in der Blase von New York dann ist Zverev dem ersten Grand-Slam-Turnier-Sieg schon ganz nahe, ehe ihm Dominic Thiem die Trophäe noch unter dramatischen Umständen entreißt. Anschließend erlebt man den Hamburger so emotional wie wohl nie zuvor.

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    Zwei ATP-Turnier-Siege gibt es für den Hamburger dann aber doch noch zu feiern, beide in Köln: Die Veranstaltungen waren kurzfristig noch in den Kalender gesetzt worden.

    Abstand gewahrt: Der Rothenbaum wird zum Lichtblick

    Bei seinem Heimturnier in Hamburg lässt sich Zverev nicht blicken – die Erschöpfung so kurz nach dem US-Open-Finale ist wie auch bei Thiem noch zu groß. Der Rothenbaum kann trotzdem an seinem neuen Termin Ende September das beste Starterfeld seit vielen Jahren präsentieren.

    Stefanos Tsitsipas vor spärlich besetzten Rängen auf dem renovierten Centre-Court am Rothenbaum.
    Stefanos Tsitsipas vor spärlich besetzten Rängen auf dem renovierten Centre-Court am Rothenbaum. © WITTERS | Valeria Witters

    2300 Zuschauer werden pro Turniertag eingelassen, die niedrige Inzidenz und die Unterstützung der Politik machen es möglich. Doch trotz Hygienekonzepts, renovierter Anlage und besten Wetters: Es kommen weit weniger Tennisfans, ob nun aus Sorge, sich anzustecken, oder wegen der strengen Regeln, die es einzuhalten galt. Trotzdem bleibt das Rothenbaum-Turnier eines der wenigen Ereignisse, die 2020 Mut gemacht haben.

    Virtuelle Sportstunde: Wenn man zum Heim-Trainer wird

    Dabei hat in diesem Jahr wohl fast jede und jeder gemerkt, wie sehr der Sport fehlt. Nur eben nicht unbedingt der auf dem Fernseher oder im Stadion: Das Virus hat uns alle buchstäblich in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

    Der Gang ins Fitnessstudio oder in den Sportverein, für Hunderttausende Menschen in Hamburg ein festes Ritual und ein wichtiger Ausgleich im Alltag, fällt vom einen Tag auf den anderen weg.

    Die Fitnessstudios trifft der Lockdown in Hamburg besonders hart.
    Die Fitnessstudios trifft der Lockdown in Hamburg besonders hart. © dpa | Hauke-Christian Dittrich

    Viele Anbieter reagieren in der Krise schnell. Schon in der ersten Woche des Lockdowns sind zahlreiche Videokurse online, teilweise auch als interaktive Livestreams.

    Also den Couchtisch weggeschoben und die Matte ausgerollt, und schon ist aus dem Wohnzimmer ein Gymnastikraum reworden. Wir lernen gleichsam über Nacht, unser Heim-Trainer zu werden. Und merken gleichzeitig, wie sehr uns das gemeinsame Sporttreiben fehlt. Erst recht, als das im Sommer vorübergehend wieder möglich wird.

    Nothilfe: Hamburg erlebt eine historische WM

    Zehn Prozent der Mitglieder könnte die Pandemie Hamburgs Sportvereine am Ende gekostet haben. Bei den Fitnessstudios fällt der Schwund sogar fast doppelt so hoch aus. Der Nothilfefonds der Stadt für den Hamburger Sport kann den Schaden nur mildern.

    Er soll auch den Veranstaltern helfen, sich durch die Krise zu schleppen. Von den traditionellen Massen-Events kann nur der Triathlon stattfinden. Er ist kaum wiederzuerkennen. Die üblichen 10.000 Jedermänner und -frauen fehlen, statt in der Innenstadt wird Anfang September am Stadtpark geschwommen, geradelt und gelaufen. Zuschauer gibt es nicht.

    Vor ungewohnter Kulisse des Planetariums im Stadtpark fand der Hamburg-Triathlon 2020 statt.
    Vor ungewohnter Kulisse des Planetariums im Stadtpark fand der Hamburg-Triathlon 2020 statt. © WITTERS | Tim Groothuis

    Der Aufwand dürfte sich aber gelohnt haben. Mangels anderer Stationen in der WM-Serie erhält der Hamburger Triathlon den Status einer Weltmeisterschaft. Einer der ganz wenigen, die es in diesem dann doch nicht olympischen Jahr weltweit zu erleben gibt. Langfristig könnte Hamburg in seinem Bemühungen um weitere Großveranstaltungen enorm profitieren.

    2021: Neues Sportjahr, neues Glück?

    Vieles von dem, was in diesem Jahr versäumt wurde, soll 2021 nachgeholt werden. Aber schon jetzt ist klar: Nicht immer wird das möglich sein. Blicken wir also mit gedämpfter Vorfreude auf das, was da teils mit einem Jahr Verspätung kommen mag: die Fußball-EM, die Olympischen Spiele.

    Plötzlich Gegnerinnen: Kira Walkenhorst (l.) und Laura Ludwig beim DM-Qualifikationsturnier im August in Hamburg.
    Plötzlich Gegnerinnen: Kira Walkenhorst (l.) und Laura Ludwig beim DM-Qualifikationsturnier im August in Hamburg. © WITTERS | Frank Peters

    Für einige Athletinnen und Athleten ist die Verspätung nicht mehr aufzuholen. Sie haben ihre Karriere nach der Absage beendet. Andere könnten von der Verschiebung sogar profitieren. Kira Walkenhorst, die Olympiasiegerin im Beachvolleyball, hat in diesem Sommer nach langer Pause ein Comeback gegeben und dabei sogar ihre einstige Erfolgspartnerin Laura Ludwig besiegt.

    Nein, im Sportjahr 2020 war wirklich nicht alles schlecht. Trotzdem kann 2021 eigentlich nur besser werden, vielleicht gibt es ja den Aufstieg des HSV und der Hamburger Handballer zu feiern. Also dann: Auf ein ereignisreiches, bewegtes neues Sportjahr!