Der britische Boxprofi, der am Sonntag in München für einen Skandal sorgte, hat seit Jahren den Ruf, verrückt und unkontrollierbar zu sein.

Hamburg. Die Reise, die ihn möglicherweise seine Karriere gekostet hat, war für Dereck Chisora am späten Sonntagabend beendet. Mit einem Lufthansa-Flug landete der britische Schwergewichts-Boxprofi auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Die wartenden Medienvertreter passierte er kommentarlos. Was zu erzählen war über die Skandalnacht in der Münchner Olympiahalle, hatte er am Sonntag in einer rund siebenstündigen Vernehmung der Polizei in der bayerischen Landeshauptstadt geschildert.

Im Anschluss an seine Punktniederlage gegen WBC-Weltmeister Vitali Klitschko hatte sich der 28-Jährige bei der Pressekonferenz eine wüste Schlägerei mit seinem britischen Rivalen David Haye, 31, geliefert, in deren Folge die Trainer der beiden, Don Charles und Adam Booth, blutende Wunden im Gesicht erlitten. Während Haye sich den Befragungen der Polizei entzog, indem er sein Hotel noch in der Nacht räumte und einen früheren Flug als geplant wählte, wurden Chisora und Charles am Sonntagmorgen von der Polizei festgenommen. Der Vorwurf der schweren Körperverletzung wurde am Abend, bevor beide auf freien Fuß gesetzt wurden, fallen gelassen, da die Provokationen von Haye ausgegangen waren. Wegen Körperverletzung wird weiterhin gegen alle vier Schläger ermittelt.

Während die rechtlichen Folgen unklar sind, liegen die sportlichen auf der Hand. Chisora droht ein lebenslanges Boxverbot. Der englische Verband gab bekannt, beide Parteien innerhalb von 14 Tagen anhören zu wollen. Da Haye nach seiner Niederlage gegen Wladimir Klitschko im Juli 2011 zurückgetreten war und keine Lizenz mehr hat, ist der Verband für ihn nicht zuständig. Der Bund Deutscher Berufsboxer kündigte an, beide lebenslang für Veranstaltungen unter seiner Regie zu sperren. Chisoras Promoter Frank Warren erklärte zudem, einen Kampf mit Haye niemals ausrichten zu wollen.

Die Frage, wie es zur Eskalation der Gewalt kommen konnte, ist nur mit einem Blick auf den Menschen Dereck Chisora zu beantworten. Der in Simbabwe geborene Kämpfer hat in England den Ruf, ein verrücktes Kind im Körper eines kraftstrotzenden Mannes zu sein. Seine Eltern sollen reiche Farmbesitzer gewesen sein, er wurde zur Ausbildung auf teure Privatschulen geschickt. Als er 15 war, trennten sich die Eltern, Chisora zog mit seiner Mutter nach Nord-London und driftete in die Kriminalität ab. "Ich habe zehn echte Straftaten begangen, aber sie haben mir nie etwas nachweisen können", brüstete er sich einmal. Das Problem ist, dass selbst gut informierte britische Boxreporter nicht unterscheiden können, wie viel Wahrheit in Chisoras Aussagen steckt. Legendär ist die von Chisora verbreitete Geschichte, er habe 45 Luxusautos in seiner Garage, sei Millionär und boxe nur zum Zeitvertreib. Diese glaubt heute niemand mehr. Wesentlich mehr über seinen Charakter sagt die Kunstfigur aus, an der sich Chisora orientiert. Der 1,87 Meter große Athlet nennt sich selbst "Del Boy", eine Figur aus seiner favorisierten TV-Serie "Only fools and horses", die nur Unsinn redet.

Dass er Vitali Klitschko beim Wiegen eine Ohrfeige gab und dessen Bruder Wladimir unmittelbar vor Kampfbeginn mit Wasser bespuckte, verwunderte Insider nicht. Immerhin hatte er 2009 seinen Gegner Paul Butlin während des Kampfes ins Ohr gebissen, war dafür vier Monate gesperrt worden. Ein Jahr später küsste er beim Wiegen seinen Kontrahenten Carl Baker mitten auf den Mund, nachdem sich beide vorher übelst beschimpft hatten. Wie unberechenbar Chisoras Hang zu Gewalt sein kann, erlebte dessen Freundin, als er die SMS eines fremden Mannes auf ihrem Handy entdeckt hatte.

Weil er ihr dafür mit der flachen Hand auf den Hintern schlug, wurde er im November 2010 zu drei Monaten Haft auf Bewährung und 150 Sozialstunden verurteilt. Letztere empfand er eher als Belohnung. "Ich habe in Krankenhäusern Möbel geschleppt und in einer Schule einen Hühnerkäfig für die Kinder gebaut. Das war keine Strafe, sondern Spaß", sagte er. Das ist die andere Seite Chisoras, der kein Psychopath ist, aber ein Mensch, der seine Aggressionen nicht kontrollieren kann.

"Das Problem mit Chisora ist, dass er seine Emotionen nicht im Griff hat", sagt Gareth Davies, Boxexperte des "Daily Telegraph". In München hat Dereck Chisora gezeigt, dass dieses Problem größer ist, als alle es sich vorstellen konnten. Gestern Abend ließ er nun mitteilen, dass ihm die Sache "von ganzem Herzen" leid tue. "Egal, ob ich provoziert wurde oder nicht: Mein Verhalten war komplett unprofessionell." Allerdings fügte er hinzu, Haye habe ihn zuerst mit einer Flasche geschlagen. Haye behauptet weiter das Gegenteil.

Vitali Klitschkos Schulterverletzung scheint harmloser als zunächst befürchtet. Die betroffene Sehne ist nur leicht eingerissen, ein Nerv aber betroffen, ergab die Nachuntersuchung in München. Ende Mai/Anfang Juni könnte Klitschko wieder in den Ring steigen.