Der Weltmeister im Schwergewicht Vitali Klitschko holt sich im Sport die Kraft für seine politische Karriere. Chisora schlägt beim Wiegen zu.

Hamburg. Er hat fast alles schon erlebt in seinen 18 Jahren als Trainer im Profiboxen, und trotzdem gibt es noch immer Momente, in denen Fritz Sdunek ehrlich überrascht ist. Vor drei Wochen im Trainingslager in Going (Tirol) war wieder so ein Moment. Vitali Klitschko, Schwergewichtsweltmeister des Verbands WBC, hatte ein Sechsrunden-Sparring absolviert, ohne von seinen Trainingspartnern auch nur annähernd in Bedrängnis gebracht worden zu sein. Anschließend schlug der 40-Jährige Sprintserien unter Maximalbelastung, der Puls schnellte auf fast 200 Schläge pro Minute hoch, war aber nach einer Minute schon wieder im Normalbereich. "Es ist unglaublich, was für körperliche Werte Vitali hat. Er ist ein absoluter Ausnahmeathlet, ein Jahrhundertmensch!", sagte Sdunek.

Der 64-Jährige arbeitet seit 1996 mit dem ukrainischen Hünen, und er ist derjenige, der dessen Karriere beenden dürfte. "Sportler können meist nicht realistisch einschätzen, wie fit sie noch sind. Ich habe mit Fritz die Verabredung, dass er mir sagt, wenn meine Leistung nicht mehr ausreicht", sagt Klitschko. Vor seiner nächsten Titelverteidigung, die am heutigen Sonnabend (22.45 Uhr/RTL) in der Münchner Olympiahalle gegen den Briten Dereck Chisora, 28, ansteht, scheint der Zeitpunkt für das finale Eingreifen des Trainers ferner denn je. "Wenn Vitali sich nicht schwer verletzt, gibt es aus gesundheitlicher Sicht keinen Grund fürs Aufhören", so Sdunek.

Dass der ältere der Klitschko-Brüder seinen Abgang von der großen Sportbühne so weit wie möglich herauszögern möchte, hat er mehrfach betont. Das Boxen ist für den dreifachen Vater mittlerweile ein Jungbrunnen. "Für ihn sind Trainingslager wie ein Sanatorium, eine Kur für Leib und Seele", sagt Sdunek. Während die allermeisten Profiboxer mit dem Rhythmus aus Training, Kampf und Urlaub ausgelastet sind, engagiert sich Vitali Klitschko seit mehr als sieben Jahren aktiv politisch und nutzt den Sport für den Stressabbau.

Klitschko ist Parteichef der Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen (Udar), die mittlerweile mehr als 10.000 Mitglieder zählt, in 15 der 24 Regionalparlamente vertreten ist und im Oktober erstmals bei den landesweiten Parlamentswahlen antritt. Im Herbst möchte er zudem nach 2006 und 2008 einen dritten Anlauf nehmen, um Bürgermeister von Kiew zu werden. In Umfragen liegt er vor Amtsinhaber Leonid Tschernowetski, er wird längst als ernst zu nehmender Rivale angesehen. Entsprechend hart sind die Bandagen, mit denen gegen ihn gekämpft wird. Jüngste Gerüchte rückten Klitschko in die Nähe von Drogenmafia und Waffengeschäften. Dinge, die er - neben der ausufernden Korruption im Land - seit Jahren anprangert.

"Politik ist ein schmutziges Geschäft, aber ich werde weiter kämpfen, um mitzuhelfen, die Ukraine zu einem demokratischen Staat zu machen", sagt der Champion, der gelernt hat, seine Bekanntheit für drastische Zuspitzungen in den Medien zu nutzen. So wurde er jüngst in der Münchner "Abendzeitung" mit den Worten zitiert, es gebe "viele, die befürchten, dass es in der Ukraine einen blutigen Aufstand wie in Syrien geben könnte". Die Ukraine sei derzeit ein autoritärer Staat.

Im Boxsport, wo im Ring klare Regeln gelten und der Bessere meistens gewinnt, fühlt sich der Wahl-Hamburger noch immer wesentlich wohler als in der Politik. Sollte ihn die Bevölkerung Kiews zum Bürgermeister wählen, wird Vitali Klitschko allerdings seine Boxkarriere beenden, das hat er bereits angekündigt. "Es wäre nicht mehr möglich, bei einer solchen Verantwortung Politik und Sport noch unter einen Hut zu bekommen", sagt er.

Es dürfte viele Kontrahenten geben, die ihm den Wahlerfolg wünschen, weil er sportlich nicht zu stoppen ist. So darf sich auch Chisora keine Hoffnungen machen, einem schlecht trainierten Titelverteidiger gegenüberzustehen. Der in Zimbabwe geborene Brite hat zwar ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, er ist schlagstark und hat gute Nehmerfähigkeiten, ihm fehlt jedoch bei nur 17 Profikämpfen die Erfahrung und schlicht die boxerische Klasse, um Klitschko zu gefährden. Seine Aktion beim Wiegen am Freitag, als er seinem Gegner beim Staredown für die Fotografen eine Ohrfeige verpasste, dürfte seine Chancen nicht gerade erhöht haben. "Er ist nervös und hat Angst", kommentierte Klitschko die Attacke.

Dass er Chisora als "weltweit stärksten Gegner aus der jungen Garde" bezeichnet, könnte man als Politiker-Geschwätz abtun. Es ist allerdings Teil von Klitschkos Strategie, jeden Gegner stärker zu reden, als er selbst jemals sein könnte. Er braucht das, um niemanden zu leicht zu nehmen, denn eine Niederlage hätte bei seinem heutigen Status verheerende Doppelwirkung. Sie würde das sportliche Aus und für die Wahlen einen herben Rückschlag bedeuten. Wie sagt Fritz Sdunek so schön: "Die Ukraine braucht Weltmeister, keine Verlierer!" Vitali Klitschko hat nicht vor, seinem Trainer eine unliebsame Überraschung zu bescheren.