Die Ex-Bundestrainer Heiner Brand und Horst Bredemeier sprechen im großen Abendblatt-Interview über den deutschen Handball.

Belgrad. Die beiden ehemaligen Männer-Bundestrainer Horst Bredemeier (1989 bis 1992) und Heiner Brand (1997 bis 2011) haben in Serbien die Spiele der Handball-Europameisterschaft von der Tribüne aus verfolgt. Bredemeier, 59, als Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Handballbundes (DHB), Brand, 59, als Spieler und Trainer Weltmeister, als Manager des DHB. „Wir müssen uns um den deutschen Handball keine Sorgen machen, wir müssen aber gerade in der Nachwuchsförderung in Kooperationen mit den Vereinen einiges ändern, damit wir auch in Zukunft erfolgreich bleiben“, sagen beide im Interview mit dem Hamburger Abendblatt/ der Welt /der Berliner Morgenpost.

Abendblatt: Herr Band, Herr Bredemeier, wie steht es um den deutschen Handball?

Heiner Brand: Diese Europameisterschaft zeigt, dass die Unterschiede zwischen den zehn, zwölf besten Mannschaften Europas immer geringer werden. Unsere Mannschaft hat sich in Serbien nach der Auftaktniederlage gegen Tschechien hervorragend präsentiert, als geschlossene, kampfstarke Einheit. Der deutsche Handball ist weiter voll konkurrenzfähig. Das war er auch bei den letzten beiden Turnieren. Bei der EM 2010 und der WM 2011 waren weit bessere Platzierungen möglich. Wir hätten auch Fünfter oder Sechster werden können und eben nicht Zehnter und Elfter. Dennoch gilt es über Verbesserungen nachzudenken. Die strukturellen Probleme der Nachwuchsförderung sind nicht gelöst.

Horst Bredemeier: Ein Sieg mehr oder weniger bedeutet bei diesen Turnieren oft ein Unterschied von fünf, sechs Plätzen. Unsere Trainer sagen ja immer, wir sind nicht so weit von der Weltspitze entfernt, wie unsere letzten Resultate vermuten lassen. Das hat sich bei dieser EM bestätigt.

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Ein gewisser Abstand zu den besten Teams der Welt ist dennoch geblieben. Wie kann die Lücke geschlossen werden?

Brand: Diese Debatte führen wir nun schon seit Jahren. Wie kann unser international sehr erfolgreicher Nachwuchs stärker gefördert werden? Nachgewiesenermaßen sind in den vergangenen Jahren zu wenige Talente von unten nach oben gekommen. Unser Ziel ist es, die individuelle Ausbildung der Spieler zu verbessern, damit sich ihre Chancen erhöhen, früher in die Bundesliga zu kommen, um dort schon in jungen Jahren Spielpraxis zu erhalten, um dann auch weit früher als zuletzt der Nationalmannschaft zur Verfügung zu stehen. Wir haben im Augenblick die Situation, dass viele erst mit 25 oder 26 Jahren Nationalspieler werden, der Gummersbacher Adrian Pfahl sogar erst mit 28. Das ist nicht ideal.

Was wollen Sie tun?

Brand: Wir haben als Programm eine Art Eliteförderung eingerichtet, um die Begabtesten noch besser auszubilden. Die besteht in zusätzlichen individuellen Trainingseinheiten an unseren elf Landesstützpunkten, vor allem in den Bereichen Kraft und Technik. Darüber hinaus helfen wir auch bei der Ausbildung, bei Schule, Studium und Beruf.

Wo sind da die Vereine in der Pflicht, wo der Deutsche Handballbund (DHB)?

Bredemeier: Die Bundesliga hat für ihre Klubs das Jugendzertifikat eingeführt. Das hat in den vergangenen Jahren zu einer strukturellen Verbesserung der Jugendarbeit geführt. Wir haben jetzt eine breitere Basis. Dazu kommt das Stützpunktsystem des DHB. Beides greift ineinander und wird helfen, das Niveau anzuheben.

Brand: Wir sind dabei aber auf die Kooperation mit den Vereinen angewiesen. Da werden wir jetzt verstärkt den Kontakt zu den Klubs suchen, damit die Dinge, die wir uns vorstellen, auch dort umgesetzt werden.

Von wem? Vom Cheftrainer?

Brand: Vom Co-Trainer oder vom Jugendkoordinator. Die müssen sich mit unseren Verbandstrainern einigen, welche Trainingsziele in der täglichen Arbeit umzusetzen sind, und wie sie umzusetzen sind; in Abstimmung mit den Anforderungen von Schule, Ausbildung und Beruf. Das muss alles im Sinne einer optimalen Förderung geregelt werden.

Bredemeier: Die Leistungsstützpunkte, die Jugend-Bundesliga und das Jugendzertifikat, das sind alles Schritte in die richtige Richtung. Dazu kommt on top jetzt die Eliteförderung. Und dann müssen wir sicherstellen, Stichwort Anschlussförderung, dass unsere Talente genug Einsatzzeiten in hohen Leistungsklassen wie der Ersten oder Zweiten Bundesliga erhalten. Da brauchen wir jetzt ein noch stärkeres Umdenken der Vereine. Dass ein 20-Jähriger, wenn er nicht gerade ein Ausnahmetalent ist, beim THW Kiel, dem HSV Hamburg oder den Füchsen Berlin nicht gleich Stammspieler werden kann, ist uns auch klar. Es würde uns aber helfen, wenn er mit diesen Weltklassespielern zusammen trainieren kann und Einsatzzeiten zum Beispiel in der Vorrunde der Champions League erhält.

An dieses Umdenken der Vereine appellieren Sie, Herr Brand, schon lange. Als Bundestrainer sind Sie da keinem Streit aus dem Weg gegangen. Passiert ist bislang aber wenig.

Brand: Insgesamt ist die Bereitschaft der Liga zur Kooperation mit dem Verband gewachsen. Mein Rückzug als Bundestrainer im vergangenen Sommer wird dazu beigetragen haben. Zum einen müssen die Klubs nicht mehr ihr Gesicht wahren, wo ich doch schon weg bin, zum anderen mag das auch ein kleiner Warnschuss gewesen sein, dass die Klubs doch mehr tun müssen, als sie in der Vergangenheit gewillt waren zu tun. Die Vereine wissen, dass wir eine starke Nationalmannschaft als Sympathieträger für unsere gesamte Sportart brauchen. Und dass sie, bei allen Interessengegensätzen, ihren Teil der Verantwortung dazu beitragen müssen.

Bredemeier: Das beste Beispiel ist die WM 2007. Nach unserem Titelgewinn haben wir 40.000 neue Mitglieder für die Vereine gewinnen können, und dies sind fast ausschließlich Kinder und Jugendliche gewesen. Damit ist die Basis für die Zukunft breiter geworden, und davon profitieren am Ende auch die Spitzenklubs, weil es mehr Talente als früher geben wird. Nur müssen die dann konsequent bis zur Bundesliga und dann in der Bundesliga gefördert werden.

Quoten für deutsche Spieler könnten helfen. Was in anderen Sportarten und Ländern möglich ist, scheint im deutschen Handball ein Tabuthema zu sein.

Brand: Man muss nicht über Quoten reden, wenn jeder seinen Teil der Verantwortung wahrnimmt. Wenn alle Vereine mitmachen und Spieler für die Nationalmannschaft ausbilden, erübrigte sich jede Diskussion. Der Handball ist übrigens die einzige Mannschaftssportart in Deutschland, in der es keine Quote für einheimische Spieler gibt. Auch die Spanier, deren Handball-Liga als einzige ähnlich stark wie unsere Bundesliga ist, haben eine Quote.

Bredemeier: Wir hatten mal das Konzept 12+2. Das hat die Liga erst aufgeweicht und dann kaputt gemacht. Da sind die Klubs vom richtigen Weg abgekommen.

Im Handball scheint der Übergang vom Junioren- ins Erwachsenenalter schwieriger als in anderen Sportarten. Warum gibt es keinen Mario Götze, der schon mit 18 Jahren Stammspieler beim deutschen Fußballmeister Borussia Dortmund war?

Bredemeier: Es fängt mit der Bereitschaft der Vereine an, sich mit solchen Leuten beschäftigen zu wollen, und das nicht nur alibimäßig. Da gibt es Anzeichen der Besserung. Hinzu kommt, dass Handball eine Kontaktsportart ist, in der eine gewisse Athletik, eine gewisse Muskelmasse vonnöten ist, um sich durchsetzen zu können. Wir haben darauf reagiert und an unseren Stützpunkten ein regelmäßiges Krafttraining eingeführt.

Brand: Fehlende Kraft ist nicht unbedingt das Hauptproblem beim Übergang ins Erwachsenenalter. Das Gewicht unserer Junioren-Nationalmannschaft, die vor einem Jahr Weltmeister geworden ist, betrug 90 Kilo, wohlgemerkt im Durchschnitt. Für wichtiger als Krafttraining halte ich die individuelle Ausbildung. Die muss so früh wie möglich und so früh wie machbar ansetzen. Dazu muss dann die Bereitschaft der Vereine kommen, mit diesen Spielern kontinuierlich zu arbeiten. Vielerorts sind junge Spieler nur die Auffüllmasse, damit im Training sechs gegen sechs spielen können. Dabei können sie auch lernen, die individuelle Förderung muss jedoch dazukommen.

Bredemeier: Wir sollten auch über Laufbahnplanung reden. Wo kann ein junger Spieler seine regelmäßigen Einsatzzeiten erhalten. Patrick Wiencek zum Beispiel wechselt im Sommer vom VfL Gummersbach zum THW Kiel. Dort stehen dann mit ihm vier Kreisläufer von Format im Kader.

Der DHB ist der größte Handballverband der Welt. Müssten er nicht allein von der Masse her mehr Talente hervorbringen als Franzosen, Spanier, Dänen oder Schweden?

Brand: Da sind wir beim Punkt Talentfindung. Das ist ein zweiter Schwerpunkt, den wir angehen müssen. Es ist oft sehr schwierig zu beurteilen, welche Perspektive haben junge Spieler. Was sie mit 14 können, sehen wir, was sie mit 18 können werden, ahnen wir nur. Da müssen wir noch bessere Kriterien entwickeln, um in Zukunft mehr Bessere zu finden.

Bredemeier: Es wird allerdings für die Handballvereine immer schwerer, an Kinder und Jugendliche heranzutreten. Der Fußball räumt im Augenblick alles ab, weil er es auch organisatorisch einfacher hat. Er ist nicht auf Hallenzeiten angewiesen. Hinzu kommt, Stichwort Ganztagsbetreuung an den Schulen, dass es schwieriger wird, einen Zugang zu den Kindern zu bekommen. Wenn die Klubs nicht ihre Rolle in der Ganztagsbetreuung finden, werden alle Sportarten Probleme kriegen, Talente zu finden und auszubilden.

Brand: Die Kultusminister haben zudem beschlossen, in der Schule eine breitere Palette von Sportarten im Unterricht anzubieten, besonders auch die sogenannten Trendsportarten. Es gibt auch immer mehr Lehrer, die solche Sportarten betreiben. Insofern wird es ein schwieriges Unterfangen, Handball im Sportunterricht zu etablieren. Wir müssen aber in jungen Jahren an die Kinder herankommen. Die Ganztagsbetreuung ist deshalb schon eine Chance, wenn die Handballvereine es schaffen, den Schulen attraktive Angebote zu machen. Darin müssen wir sie unterstützen.

Bredemeier: Der DHB kann da Anregungen geben, die Basis vor Ort muss es dann leisten. Du brauchst dort hochmotivierte Leute, die die Kinder mitreißen.

Brand: Ein weiteres Problem ist die föderale Struktur unseres Bildungswesens. Was in Hamburg gilt, gilt nicht in Bayern oder anderswo. Das betrifft den gesamten Leistungssport in Deutschland. Da kann es von Seiten der Verbände nicht nur ein Konzept geben, es muss fast für jedes Bundesland ein anderes geben. Das macht die Sache ja so schwierig. Im Prinzip ist man immer auf das Wohlwollen des Schulleiters angewiesen, dass er dem Sport nahe steht. Es gibt kein bundesweites Konzept: So fördern wir den Leistungssport. Das ist eine große Schwäche unseres gesamten Spitzensportsystems, auch was später die Zusammenarbeit mit den Hochschulen betrifft.

Was machen andere Nationen besser, zum Beispiel die Franzosen, die bis zu dieser EM in Serbien über viele Jahre das Maß aller Dinge im Handball waren?

Brand: Da wird immer gesagt, die trainieren individueller, was zum Teil stimmt. Und sie würden angeblich keinen Wert auf Erfolge in der Jugend legen, was so nicht stimmt. Ich werde in den nächsten Monaten mir selbst ein Bild davon machen und nach Frankreich fahren, wobei wir eins zu eins sicherlich keine Modelle übernehmen werden. Viel wird auch glorifiziert. Auch bei den Franzosen kommt nicht jedes Jahr ein Supertalent nach. Der Großteil der Mannschaft, die in den vergangenen Jahren diese Erfolge feierte, ist inzwischen über 30. Das mag auch in Serbien das Problem der Franzosen gewesen sein. Mit unseren starken Jahrgängen haben wir uns ja auch rund zehn Jahre lang an der Weltspitze halten können und haben bis auf den Olympiasieg alles gewonnen. Wir wollen aber in Zukunft nicht auf diese Zufälle angewiesen sein, sondern systematisch Talente finden und fördern. Daran arbeiten wir. Und auch dann wird es immer mal wieder mal ein Turnier geben, in dem wir nicht ins Halbfinale kommen. Denn wir sind nicht die einzigen auf der Welt, die uns Gedanken machen, wie man den Handball voranbringen kann.

Wie groß ist der finanzielle Druck für den DHB, Erfolge mit der Nationalmannschaft feiern zu müssen?

Bredemeier: Wir haben mit Sportfive einen hervorragenden Vermarkter, der uns pro Jahr eine feste Summe an Sponsorengeldern garantiert. Der Vertrag läuft vorerst bis 2014. In diesen Tagen hat einer unser Premiumpartner die Zusammenarbeit mit uns um weitere zwei Jahre verlängert. Der DHB ist nach wie vor ein starker und interessanter Partner für Unternehmen.

Das Spiel gegen die Polen heute ab 16.15 Uhr im Liveticker bei www.abendblatt.de