Der 23-jähriger Reiter aus Hetlingen gewinnt mit Calle Cool das Springderby in Klein Flottbek. 75.000 Zuschauer sorgten für neuen Rekord.

Hamburg. Seit 15 Jahren zählt es zum erstklassigen Ton in Klein Flottbek, dass nach dem Derby zu Ehren des Siegers die deutsche Nationalhymne erklingt. Auch gestern war es wieder soweit, doch hätte das Lied vom meerumschlungenen Land noch besser gepasst: Sowohl Nisse Lüneburg, mit 23 Jahren drittjüngster Triumphator in der Geschichte des Blauen Bandes, als auch sein Pferd Calle Cool stammen aus Holstein. Es passte ins Bild, dass der Zweitplatzierte Torben Köhlbrandt im Sattel von C-Trenton Z auf Fehmarn aufgewachsen ist.

Kein Wunder, dass auf dem Derbyplatz norddeutsche Heimspielatmosphäre aufkam. Dreimal steuerte Lüneburg seinen Wallach zur Gratulationscour über den Parcours. Das Pferd bewies, typisch Holsteiner, eigenen Kopf und verweigerte den traditionellen Lorbeerkranz. Für solch ausgeprägten Eigensinn gab es Extraapplaus. Wo versteht man so etwas besser als in Hamburg? Die 25-jährige Judith Emmers aus Marl auf Rang drei rundete einen Derbysonntag der Überraschungen ab.

"Es war nervenaufreibend und höchst emotional", stellte Turnierchef Volker Wulff fest. Ende gut, fast alles gut! 25 000 Zuschauer am Schlusstag bildeten einen würdigen Rahmen und sicherten den Veranstaltern mit insgesamt gut 75 000 Gästen einen neuen Rekord. "Ich habe ein bisschen Angst vor dem kommenden Jahr", bilanzierte Wulff. "Die Luft nach oben wird dünner, der Druck größer."

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"Ich hätte auch Fußballprofi werden können"

Stimmt, aber was sollten erst die beiden jungen Reitersleut sagen, die dem 83. Deutschen Derby erstmals seit 2009 wieder fehlerfreie Ritte bescherten. Vom temperamentvollen, erneut alles andere als hanseatisch unterkühltem Publikum gefeiert, hatte Köhlbrandt, 31, das Bravourstück als Erster geschafft. Mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand verfolgte er vom Einritt aus das weitere Geschehen. Als so namhafte Rivalen wie Michael Whitaker, Marcus Ehning und der amtierende Champion André Thieme patzten, sah alles nach einem Coup Köhlbrandts aus.

Doch dann dirigierte Außenseiter Nisse Lüneburg den 15 Jahre alten Kämpfer Calle Cool, vor vier Jahren unter Carsten-Otto Nagel bereits Derbyzweiter, ebenso wagemutig wie gefühlvoll über den Großen Wall, Pulvermanns Grab und die anderen 15 Hindernisse. Geschafft! Stechen! Während Köhlbrandt dann am Buschoxer ein Missgeschick passierte, blieb Lüneburg mit einem Husarenritt erneut ohne Fehl und Tadel - von einer minimalen Zeitüberschreitung abgesehen.

Der Profi aus Hetlingen, der am Ludwig-Meyer-Gymnasium in Uetersen sein Abitur machte und im Stall Magdalenenhof in Wedel arbeitet, riss sich die Kappe vom Kopf, reckte die rechte Faust und schrie lauthals vor Glück. Sein älterer Bruder Rasmus krönte als Elfter einen Tag, den die pferdesportbegeisterte Familie Lüneburg gewiss niemals vergessen wird. "Dieses Gefühl ist überwältigend", sagte der neue Champion, "ich hatte nie und nimmer damit gerechnet." Mit ein paar Freunden hatte er den Vorabend in Wedel beim Fußball verbracht - und sich bestenfalls als Außenseiter gesehen.

Als die Sieger komplett den Parcours verlassen hatten, verharrte das Publikum und bewies Hamburger Stil: Von Beifall begleitet, machten sich der dreimalige Derbysieger André Thieme und sein 17 Jahre alter Hengst Nacorde auf die Abschiedsrunde. Der Braune darf nun in den Ruhestand. Am Buschoxer war dem Duo ein Abwurf widerfahren, sodass am Ende Platz fünf blieb. Das war aller Ehren wert. Ebenso wie der achte Platz des Qualifikationssiegers Michael Greeve aus den Niederlanden, der bester ausländische Gast unter den deutschen Derbyspezialisten war.

Unter dem Strich erlebte das Publikum famose Reitertage. Der viertägige Klassiker war von internationalem Flair geprägt und perfekt organisiert, ohne dass der bodenständige, familiäre Charakter auf der Strecke blieb. Überraschungssiege wie der des Polen Oskar Murawski in der ersten Derbyqualifikation würzten die Kür der Granden.

14 der 35 Teilnehmer schaffen den Kurs nicht, darunter Janne Friederike Meyer, deren Büttner's Catcher an der Planke hinter dem Wall patzte und dann ein Hufeisen verlor. Bei so viel hochkarätigem Sport blieb nur eine Frage offen: Warum lässt die Politik, von einem ehrbaren Staatsrat bei der Ehrenzeremonie abgesehen, eines der attraktivsten Sportereignisse Hamburgs links liegen? Ein Senator oder der Bürgermeister wurden am Derbysonntag nicht gesehen. Hier gibt es für die Derbymacher Paul Schockemöhle und Volker Wulff einiges zu tun.