Bei Trauerreisen ist die Schweiz für viele ein Sehnsuchtsziel. Je größer die Unterschiede zur Heimat, umso besser gewinnt man Abstand zum Alltag.

Schweiz. Vergeblich kämpfen die Sonnenstrahlen gegen die schweren Nebelwolken, die der Vierwaldstättersee ausatmet. Die Stimmung ist trüb, traurig, trostlos und trist - und so auch die Gefühlslage der Reisenden, müsste man meinen. Mehr als ein Dutzend Männer und Frauen sind mit dem Spezialanbieter Re-Bo-Reisen für Trauernde in die Schweiz gekommen, um zu erzählen, zu verarbeiten, zu trösten. Aber halt, im Shuttlebus vom Bahnhof Luzern zum Hotel in Weggis herrscht gelöste Atmosphäre. Die Leute machen Witze und unterhalten sich rege, dabei kennen sie sich erst seit Kurzem. Das Wort Trauerreise fällt kein einziges Mal, obwohl der Tod allen Teilnehmern den Lebenspartner genommen hat. Die Reise soll der Startschuss für einen neuen, fröhlicheren Lebensabschnitt sein. Also wollen die Reisenden auch genießen, lachen und vergessen. Dazu passt das trübe Bild nicht, das der See heute abgibt. Aber das wird sich noch ändern.

Obwohl sich alle schon nähergekommen sind, gibt es am ersten Tag eine kleine Vorstellungsrunde. Jeder nennt seinen Namen und seinen Wohnort. Wenn er will, erzählt er auch, wie lange er schon allein ist. Einige setzen gleich zur Lebensbeichte an, berichten über ihre Einsamkeit, ihr Solo-Dasein und wie sie versuchen, mit dem Verlust fertigzuwerden. Es sind auch Stammgäste mitgekommen, die dem Rest Mut machen: "So eine Reise bringt Sie weiter." Man merkt, wie sich die Mitglieder der Schicksalsgemeinschaft von Anfang an unterstützen. "Ich erzähle hier die intimsten Dinge, die ich meiner besten Freundin zu Hause nicht anvertrauen würde", sagt eine Teilnehmerin.

Bei der einwöchigen Reise folgt auf jeden Tag mit Programm ein Erholungstag zum Verarbeiten. Ein Stück weit therapieren sich die Teilnehmer schließlich gegenseitig, hören lange zu, wie der Nebenmann seinen Schicksalsschlag verarbeitet hat, geben Tipps und klagen dann ihre Nöte. Und trotzdem ist die Stimmung nie melancholisch oder gar traurig. Bei den Ausflügen werden die Trauer-Reisenden sogar gefragt, ob sie die Kegelkasse auf den Kopf hauen. Nicht einmal der Guide, der den halben Tag mit der Gruppe auf der Rigi verbringt, ahnt, mit wem er es zu tun hat. Die deutschen Teilnehmer, von denen einige noch nie in der Schweiz waren, staunen, dass hier Züge bis auf die höchsten Gipfel fahren. "Was? Und das schon seit dem 19. Jahrhundert?" Es reicht sogar für eine kurze Wanderung am Berg, der zu den schönsten Aussichtspunkten der Alpen zählt. Obwohl immer noch Nebelschleier den See verhüllen und die Gipfel sich gegenseitig dunkle Wolken zuspielen, kann man Eiger und Finsteraarhorn sehen. Auf der anderen Seite reicht der Blick bis in den Schwarzwald. Die meisten Teilnehmer stammen aus Nordrhein-Westfalen und Norddeutschland. "Wir sehen zwei Tage vorher, wer zu Besuch kommt, so flach ist es bei uns", scherzt eine Frau. "Die Berge hier sind wunderschön." Auch das könnte als Therapieansatz durchgehen: Je größer die (landschaftlichen) Unterschiede zur Heimat, umso besser kann man Abstand gewinnen.

"Die Schweiz ist für viele ein Sehnsuchtsziel", erklärt Irma Beuse, die Re-Bo-Reisen zusammen mit ihrer Schwester gegründet hat und die Tour begleitet. Sie habe den Vierwaldstättersee wegen seiner zentralen Lage und der besonderen Stimmung ausgesucht. Mal herrschen Regen und Nebel, man fühlt sich bedrängt von den Wolken und den dunklen Bergen. Dann gilt es, Sonnenschein und die schier unendliche Sicht über alle Gipfel zu genießen. Der See als Spiegelbild der Seele. Er macht das Wechselspiel mit, als hätte man ihm erklärt, worum es geht. "Lichtblicke sind wichtig, man muss nach vorne schauen. Aber die Trauer ist unterschwellig immer da", sagt Irma Beuse. Vor sieben Jahren, als ihr Mann innerhalb weniger Wochen starb, steckte sie so tief in einem Tränental wie ihre heutigen Gäste. Da beschloss sie, ein Reiseunternehmen für Trauernde zu gründen. Damals war es eine brandneue Idee, heute gibt es einige Nachahmer. Aber ihr Konzept ist immer noch einmalig: Bei jedem Trip ist eine professionelle Trauerbegleiterin dabei, das Programm ist anspruchsvoll, aber nicht anstrengend, An- und Abreise erfolgen in der 1. Klasse. Egal ob es mit dem Zug in die Schweiz geht oder mit dem Flieger nach Neuseeland. "Wir sind übrig geblieben, wir lassen es uns gut gehen, solange es geht", lautet ihr Leitspruch. Mittlerweile bietet sie zehn bis zwölf Reisen pro Jahr an. "Ich hätte nie gedacht, dass wir mal so groß werden." Kürzlich hat ihre 15 Jahre jüngere Schwester sogar ihr Modegeschäft aufgegeben, um sich Re-Bo-Reisen voll und ganz widmen zu können. "Aber wir wollen nicht mehr weiterwachsen", betont die 76-Jährige. "Mein Auskommen ist längst gesichert, ich mache das aus Überzeugung und mit Herzblut."

Der Preis für eine einwöchige Reise liegt zwischen 1400 und 1700 Euro. Zum 1.-Klasse-Ticket kommt schließlich noch der erhöhte Preis für ein Zimmer in Einzelbelegung. Manche Teilnehmer wollen kein Doppelzimmer beziehen. "Ich kann ein leeres Bett neben mir nicht ertragen", erzählt eine Teilnehmerin. Sie hat auch schlechte Erfahrungen gemacht, als sie solo verreist ist. "Mit einer Witwe will keiner etwas zu tun haben." Auch Gruppenreisen seien ein Problem, weil man immer auf Paare treffe und schwer Anschluss bekomme. In der Schicksalsgemeinschaft bei Re-Bo-Reisen fühlen sie sich "geborgen und verstanden". 80 Prozent der Teilnehmer, die mit Irma Beuse oder ihrer Schwester auf Tour gehen, sind Frauen, der Altersdurchschnitt liegt bei 60 Jahren. "Wir machen keine Seniorenreisen, wir sind immer aktiv."

So wie die Vierergruppe, die am freien Tag quer über den See bis nach Flüelen fährt und feststellt, dass man dabei den Geburtsort der Eidgenossenschaft passiert, die Tellsplatte. "Das war der mit dem Apfel." Beim Abendessen wird der Schweizer Volksheld zum Thema. Verschiedene Versionen kursieren, die eine oder andere kommt der Geschichte sogar recht nahe. Beim Absacker an der Bar diskutieren die Gäste weiter. Am späten Abend brechen dann die Wunden wieder auf. Jeder weiß, dass er bald alleine in sein Zimmer geht. Wer den Mut aufbringt, wendet sich jetzt an Ursula Kohlhase. Die Sozialpädagogin ist eine von fünf professionellen Trauerbegleiterinnen bei Re-Bo-Reisen. Sie hält jedem Schmerz ein einfühlsames Lächeln entgegen und kann stundenlang zuhören. "Das Wichtigste ist, dass man über seine Trauer spricht."