In dem kleinen Ort am Luganer See im Schweizer Kanton Tessin lebte der Schriftsteller Hermann Hesse 40 Jahre bis zu seinem Tod.

Udo Lindenberg war da. Das gekritzelte Selbstporträt mit Hut und Sonnenbrille ist unverkennbar. "Das Unmögliche, mach es möglich", hat der Rocker ins Gästebuch des Museums für jenen Dichter geschrieben, der ihn - wie unendlich viele andere Menschen in etlichen Ländern der Welt - seit Teenagertagen beeindruckt und beeinflusst hat: Hermann Hesse, Autor von Romanen wie "Steppenwolf" und "Siddhartha", die bis heute zu den einflussreichsten der Weltliteratur zählen.

Der Todestag des Literaturnobelpreisträgers von 1946 jährt sich am 9. August zum 50. Mal. Ein Grund mehr für Hesse-Fans, auf seinen Spuren zu wandeln. Im württembergischen Calw, wo er 1877 geboren wurde und wo unter anderem sein Roman "Unterm Rad" entstand. Oder in Basel, wo Hesse in einem Antiquariat arbeitete und begann, an seinem weltberühmten Roman "Steppenwolf" zu schreiben, den er später in Zürich vollendete.

Doch nirgendwo wird der Wahl-Schweizer Hesse so nacherlebbar, steht und geht er in der Vorstellung so neben einem, wie bei Wanderungen auf seinen Spuren im Schweizer Kanton Tessin. Hier lebte der Schriftsteller mehr als 40 Jahre bis zu seinem Tod. Hier schrieb er seine bekanntesten Romane und Gedichte, darunter seinen letzten und umfangreichsten Roman "Das Glasperlenspiel". Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Autor Deutschland für immer verlassen, war geflohen vor familiären Sorgen ebenso wie vor dem Hass vieler Landsleute, die ihn wegen seiner Ablehnung des Krieges als "vaterlandslosen Gesellen" anfeindeten.

Hesse liebte die Landschaft am Luganer See mit ihren Hügeln und Schneebergen, von Pinien gesäumten Wegen, Palmen, bunten Wiesen und Wäldern voller Kastanienbäume. Sie habe ihn "wie eine vorbestimmte Heimat oder doch wie ein vorbestimmtes Asyl angezogen und empfangen", schrieb er 1954.

Im Ticino (Tessin), dem italienisch geprägten südlichsten Teil der Schweiz, gibt es viele Möglichkeiten, den Spuren Hesses zu folgen. Am besten beginnt man die Annäherung an die Lebenswelt des Mannes, den ganze Generationen als ihren Sturm-und-Drang-Guru angesehen und in Erinnerung behalten haben, in seinem Wohnort Montagnola. Das Dorf auf dem Collina d'Oro, dem Goldhügel, nach dem heute auch die gesamte umliegende Gemeinde benannt ist, liegt oberhalb der Finanz- und Kulturmetropole Lugano. Früher führte ein Waldweg vom Ufer des Luganer Sees hierher. Hesse ging ihn gern, wenn er "in die Stadt" wollte. Heute ist die Strecke so weitgehend asphaltiert und zugebaut, dass man besser mit dem Auto oder ab dem Bahnhof von Lugano mit dem Postbus nach Montagnola fährt.

Das erste Ziel ist für die meisten das Museo Hermann Hesse. Dort hält die Direktorin Regina Bucher das Gästebuch mit der Widmung und Zeichnung Udo Lindenbergs unter Verschluss. "Man weiß ja nie", sagt sie schmunzelnd. "Er hat ja auch viele Fans, da wollen wir nicht riskieren, dass irgendeiner die Seite mitgehen lässt."

Lindenberg ist nicht der einzige Musiker unter den vielen Hesse-Bewunderern. In den wilden 60er-Jahren nannte sich sogar eine amerikanische Rockband - aufbegehren war angesagt - Steppenwolf und eroberte die Hitparaden mit "Born to Be Wild". Öfter noch als Udo lässt sich in Montagnola die US-Rockerin Patti Lee Smith sehen.

Manchmal gibt Smith, Amerikas "Godmother of Punk", dann spontan ein Konzert zu Ehren ihres Idols. Und zur Freude von Regina Bucher. Es war die Liebe, die sie 1996 nach Montagnola verschlagen hat. Die Liebe zu einem Tessiner, der einst in Berlin Untermieter der damals verbeamteten Studienrätin für Sonderpädagogik war. Und auch die Liebe zu den Werken des "Siddhartha"-Dichters. Seit 1997 leitet Bucher das Museum, das sie gemeinsam mit der Fondazione Hermann Hesse aufgebaut hat. Sie gehört auch zu den Kuratoren der Ausstellung "... die Grenzen überfliegen", die im Kunstmuseum Bern sowie ab 31. August in Lugano so umfangreich wie nie zuvor Hesses Werk als Maler zeigt. Zudem ist Buchers gründlich recherchierter wie unterhaltsam geschriebener Literatur-Reiseführer "Mit Hermann Hesse durchs Tessin" zu einer Art literarischer "Wander-Bibel" für alle avanciert, die mehr wollen, als allein den Hesse-Rundweg rings um Montagnola abzulaufen.

Aber selbst wer nur die dafür nötigen knapp zwei Stunden erübrigen kann oder möchte, wird das Museum als Ausgangspunkt wählen. Allein schon wegen der Audioguides. Sie machen neben Informationen zu den einzelnen Stationen auch Hermann Hesse selbst durch Ausschnitte aus Lesungen und Interviews hörbar.

Gleich neben dem Museum steht die Casa Camuzzi, die leider für Touristen nicht zugänglich ist. In diesem wie ein Barockschlösschen anmutenden Mehrfamilienhaus fand Hesse 1919 eine Wohnung. Sie war in schlechtem Zustand, aber für den damals armen Poeten bezahlbar. Und sie lag nur zwei Minuten vom Dorfkern entfernt. Von der Sonnenterrasse aus bietet sich ein unglaublicher Blick über den Luganer See.

Hesse schrieb dort zahlreiche Gedichte und Werke wie "Klein und Wagner", "Narziss und Goldmund" oder "Klingsors letzter Sommer". Ein wenig spöttisch nannte er die Villa Camuzzi später "Klingsors Palazzo". Auch "Siddhartha" ist dort entstanden.

Allein dieser Roman hätte wohl genügt, um Montagnola und die Casa Camuzzi zur Hesse-Pilgerstätte zu machen. Henry Miller nannte dieses meistgelesene Werk Hesses "eine ungeheure Tat". Die romanhafte Auseinandersetzung mit dem Buddhismus war für den US-Schriftsteller "eine wirksamere Medizin als das Neue Testament". Auf der Camuzzi-Terrasse mit See- und Bergblick war es auch, wo Hesse sein Talent als Maler entfaltete - auf Anraten eines Psychotherapeuten als "Medizin" gegen Depressionen.

Der Rundweg führt vorbei an mehreren Grotti - kleinen Schankstuben im Wald, oft halb im Berg versteckt -, in denen Hesse auf seinen Wanderungen gern einkehrte. Die Stimmung in einem Grotto beschrieb er so: "Der nackte steinerne Tisch bei der steinernen Bank unterm Kirschlorbeer oder Buchsbaum, der Krug und die tönerne Schale voll Rotwein im Kastanienschatten, das Brot und der Ziegenkäse dazu - das alles ist zur Zeit des Horaz auch nicht anders gewesen als heute."

Umfangreiche Möglichkeiten zur Vorbereitung auf Hesse-Wanderungen bietet das Jubiläums-Programm bei dessen Stammverlag Suhrkamp. Neben der Neuauflage seiner Werke ist dort auch etwas wirklich Neues erschienen: "Hesses Frauen" von Bärbel Reetz schildert das Leben der drei Ehefrauen an der Seite des Schriftstellers. Sie hatten damit fertigwerden müssen, dass Hesse, wie er schrieb, "nicht Eines und Eine lieben kann, sondern das Leben und die Liebe überhaupt lieben muss".

Auf dem Rundweg erfährt man per Audioguide auch einiges über Ninon Dolbin, Hesses dritte Ehefrau. Die Wienerin betete den Schriftsteller an und schrieb ihm schon als 15-Jährige flammende Briefe. Schließlich willigte er ein, dass sie ihn in Montagnola besuchte. Es dauerte Jahre, bis sich eine Liebesbeziehung entwickelte, doch 1931 entschloss sich der bindungsscheue Dichter doch, noch einmal zu heiraten.

Mit Ninon bezog er ein großes Anwesen, die Casa Rossa ein paar Minuten außerhalb des Dorfkerns. Die Villa hatte der Zürcher Industrielle und Mäzen Hans Conrad Bodmer nach Hesses persönlichen Wünschen für ihn bauen lassen. Er wollte sie ihm schenken, aber der Autor bestand darauf, in der Casa Rossa lediglich für sich und seine Frau lebenslanges Wohnrecht zu bekommen.

Die letzte Station - wenn auch nicht in der Reihenfolge des Hesse-Rundwegs - ist Gentilino. In diesem Ortsteil von Montagnola liegt neben der prächtigen Kirche Sant'Abbondio der gleichnamige Gemeindefriedhof. Hier wollte der meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts begraben werden.

"Ich habe oft und oft das Lied dieser Berge, Wälder und Rebhänge gesungen", schrieb er. "Und so hoffe ich, wenn ich auch kein Tessiner geworden bin, die Erde von Sant'Abbondio werde mich freundlich beherbergen, wie es Klingsors Palazzo (Casa Camuzzi) und das rote Haus am Hügel (Casa Rosso) so lange Zeit getan haben." Der Wunsch wurde ihm erfüllt. 1962 wurde Hesse Ehrenbürger seines Dorfes. Noch im selben Jahr starb er, 1966 seine Frau Ninon. Ihre Gräber, so hatten sie es gewollt, sind die schlichtesten des Friedhofs.