Historische Reiseroute durch die Schweiz: Mit der Rhätischen Bahn auf 100 Jahre alter Strecke die Rheinschlucht von Chur bis Disentis entdecken.

Draußen vor dem Abteilfenster rauscht der Rhein, drinnen das Rätoromanische. Ich verstehe nur Bahnhof. Bis die blonde Schweizerin mir schräg gegenüber ihre überdimensionierte Handtasche öffnet. "Ein Söckili", tönt sie fröhlich und holt einen einzelnen Damenstrumpf in Weiß-Rosa hervor. Die Freundinnen kichern. "Dröblis" - eine Dose mit Bonbons macht die Runde. "Ein Präservatii" prustet die junge Frau schließlich. Aber das bleibt in der Tasche. Sicherheitshalber. Der Rest geht unter in der fremden Sprache.

"Rein Anteriur", gefühlvoll betont und mit zwei mächtig rollenden "R"s, würde die Rätoromanin sagen, hätte sie nicht nur einen Blick für ihre Tasche, sondern auch einen für den rauschenden Fluss vor dem Abteilfenster übrig. Aber vermutlich fährt sie öfter hier auf der schmalspurigen Eisenbahnlinie, die in Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, ihren Anfang nimmt und in der Einöde endet. Jedenfalls war das so, bevor vor genau 100 Jahren die Rhätische Bahn das Teilstück entlang des Vorderrheins fertigstellte. Es führt bis in die Gemeinde Disentis, die im Romanischen Mustér heißt, was so viel bedeutet wie: Ort, wo man einsam lebt.

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Heute befördert die Strecke neben Pendlern vor allem Wintersportler, Wanderer und Wasser. Über 10 000 Lastwagenfahrten durch ihr Gemeindegebiet müssten Ferienorte wie Flims und Laax ertragen, gäbe es nicht den Mineralwassertransport per Bahn, heißt es in einer Broschüre. Ich wundere mich, weil diese Skiresorts doch überhaupt keinen Bahnanschluss haben. Während ich noch die Karte studiere, wechselt der Zug das Rheinufer, es folgt ein kleiner Tunnel, dann taucht eine gewaltige Schlucht auf: Imposante weißgraue Steilwände scheinen mit den Wolken und dem Wasser eine Verbindung einzugehen. Dazwischen überall grüne Inseln aus Wald und Auenlandschaft - ein fast mystischer Anblick.

Wir sind in der "Ruinaulta", der berühmten Rheinschlucht, angekommen. Vor rund 9500 Jahren, so berechneten Geologen, stürzte hier der Berg, unvorstellbare neun oder gar zwölf Kubikkilometer Gesteinsmaterial, talwärts. Die Schuttmassen stauten den Vorderrhein auf, bis der sich im Laufe der Zeit in schönen Schleifen durch das Gestein gefressen und eine spektakuläre Steilwand geschaffen hatte.

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Genau durch diese enge Schlucht fährt heute die Bahn, während der Straßenverkehr nördlich vom Rhein den Weg über die fast 500 Meter höheren Bergdörfer Laax und Flims nehmen muss. Noch bis zu 1500 Meter darüber liegt die Abrisskante, weshalb vom "Flimser Bergsturz" gesprochen wird. Da der Schuttkegel südlich des heutigen Ferienortes für eine landwirtschaftliche Nutzung nicht infrage kam, blieb ein ausgedehntes Waldgebiet zurück und gab dem Vorderrheintal seinen Namen: Surselva bedeutet "über dem Wald".

Sursilvan heißt auch die Sprache, in der sich die jungen Mitreisenden unterhalten. Eines von fünf Idiomen, in die das Rätoromanische aufgeteilt ist: In den abgeschiedenen Tälern entwickelten sich unterschiedliche Ausprägungen und Schriftweisen. Das war lange bevor die Rhätische Bahn kam, von der kein Mensch weiß, warum sie das h im Namen hat, das dem Rätoromanischen fehlt. Und lange bevor die ersten privaten Motorfahrzeuge in Graubünden zugelassen wurden - im Jahr 1926.

Obwohl die jungen Leute alle fließend Deutsch und vermutlich auch Italienisch sprechen, bleiben sie dem Rätoromanischen treu. Nur wenn es ganz konkret wird, wechseln sie mal ins Deutsche. Oder wenn es ein wenig schmutzig wird. "Scheiße", entfährt es einem jungen Mann, der fast vergessen hätte, den Halteknopf zu drücken. "Haltestelle auf Verlangen" gilt in den kleinen Orten am Rande der Rheinschlucht bis Ilanz - eine Kleinstadt, aber dafür die erste am Rhein, wie der Werbeslogan betont. Hier steigen die jungen Schweizer aus - zusammen mit mir. Ich suche ein Hotel und wundere mich über die Ruhe am Rhein. Wo sind Menschen an einem Sommerabend, die ich nach dem Weg fragen könnte? Zwei Biker, auf der Rhein-Route unterwegs, sind zu schnell für mich, aber eine freundliche Ilanzerin hält extra für mich an: An dem Hotel Rätia bin ich vor 100 Metern vorbeigelaufen. Ein echter Geheimtipp, so scheint mir.

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Zwei Tage später fahre ich wieder mit der Rhätischen Bahn. Dieses Mal rheinabwärts und in Begleitung: Philipp, Auszubildender der Surselva Tourismus AG, und eine vierköpfige Familie aus Potsdam sind mit an Bord. Mitten in der Schlucht hält der Zug sozusagen im Niemandsland. Ein verwaister Bahnhof und eine Kanuschule: Das Wildwasser gilt als mittelschwer, das Panorama ist einzigartig - ein idealer Ausgangspunkt für Rafter und Kanuten. Philipp empfiehlt tatsächlich eine Tour mit einem der Schlauchboot-Taxis, um per River Rafting neue und nahe Perspektiven auf die Schlucht zu gewinnen. "Zumal die Wanderung durch die Schlucht für Kinder zu anstrengend ist."

Marc und Solveigh johlen. Rafting klingt doch viel besser als Wandern - egal wie tief die Wolken hängen und wie kalt es draußen ist. Bei der Weiterfahrt wird deutlich, was Philipp meint: Der Wanderweg, der übrigens auch von Bikern genutzt werden darf, folgt noch eine Weile der Bahnlinie mit Blick auf Stromschnellen und Sandbänke. Dann macht er einen steilen Anstieg auf die Halbinsel Chli Isla, die von einer geschwungenen Rheinschleife umgeben wird. Auf der anderen Seite wartet die Eisenbahnbrücke über den Rhein, auf der es auch eine Passage für Fußgänger gibt. Aber anschließend führt der Weg bergan durch den Wald, Richtung Flims, weg von der Bahn, die mithilfe eines Tunnels in Wassernähe bleiben kann. "Zu Fuß ist dieser Teil der Rheinschlucht nicht begehbar, nur per Bahn oder Boot", sagt Philipp.

Dafür steigen wir an der nächsten Station in Trin aus. Hier folgt der Wanderweg, der erst im Jahr 2011 eröffnet wurde, Bahn und Rhein wieder und bleibt ganz ebenerdig. Der Nachteil ist allerdings: zwischen Schienen und Wasserweg sind wir manchmal ganz schön eng eingezäunt. Um entgegenkommende Mountainbiker durchzulassen, müssen wir beiseitetreten. Wir machen ein Picknick, werfen Steine in den Fluss und planen eine Goldwäsche weiter oben am Rhein bei Disentis für den Nachmittag. Das schafft glänzende Augen und schnellere Schritte Richtung Reichenau, des Zusammenflusses von Vorder- und Hinterrhein und der nächstgelegenen Haltestelle der Viafier retica, der Rhätischen Bahn.