Haupt- und Realschüler werden gemeinsam unterrichtet. Besuch in einer Modellschule, die einst im Verborgenen arbeiten musste

Apensen. Wie sieht es eigentlich im Inneren einer Schule aus, die einst ein geduldeter Sonderfall war und jetzt ein Modell für das ganze Bundesland ist? Bemerkenswert ordentlich, bemerkenswert ruhig, das ist der erste Eindruck. Die Ruhe erstaunt den Besucher besonders deshalb, weil es sich um eine siebte Klasse handelt, der er an diesem Tag bei einer Deutschstunde zuschauen darf. Doch entgegen den Erinnerungen, die er selbst an diese Zeit hat, sitzen die Kinder im Obergeschoss des Schulzentrums Apensen still an Tischen und machen konzentriert Gruppenarbeit. Gruppenarbeit, Ruhe und Konzentration, das geht zusammen - zumindest hier, lernt der Besucher.

Auf dem Programm steht die Geschichte "Von der Stadt- und der Feldmaus" nach Martin Luther. Die Kinder sollen lernen, wie man eine Inhaltsangabe verfasst. Dazu sollen sie den Text in Abschnitte aufteilen und Zeichnungen machen, die die Handlung erzählen. Eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, zumal die Sprache des Textes nicht einfach ist.

Am Tisch von Nils, Kenneth und Ricardo ist das Vorhaben weit gediehen. Ein kleiner Comic entsteht, in der sich die Feld- und die Stadtmaus begegnen und einiges über die Gefahren lernen, die von Kellnern und Katzen ausgehen. "Kenneth und ich machen die Hindergründe. Nils malt die Mäuse", erklärt Ricardo die offenbar gut funktionierende Teamarbeit. Warum sie sich die Arbeit genau so und nicht anders aufgeteilt haben, will der Besucher wissen. Ganz einfach: "Nils kann Mäuse einfach besser", sagt Ricardo.

Was ist das Besondere an dieser Schulklasse, warum ist gerade Apensen ein Modell? Kenneth und Ricardo sind - so steht es auf ihren Zeugnissen - Realschüler, Nils ein Hauptschüler. Dennoch sitzen die drei an einem Tisch zusammen, anstatt in unterschiedlichen Häusern unterschiedlichen Unterricht zu bekommen.

Ähnlich wie in Apensen dürften bald in vielen niedersächsischen Schulen Haupt- und Realschüler zusammen sitzen, hier und da wird wohl auch ein Gymnasiast mit am Tisch sein. Denn das Land plant eine Kehrtwende in der Bildungspolitik. Nachdem die schwarz-gelbe Koalition jahrelang das Prinzip der strikten Trennung nach Schulzweigen verfolgt hat, sollen nun Haupt- und Realschulen zu sogenannten Oberschulen zusammengefasst werden. Unter bestimmten Bedingungen können die Schulen auch gymnasiale Zweige bekommen.

Im März wird der Landtag aller Voraussicht nach das entsprechende Gesetz beschließen, dann können die Schulen nach den Sommerferien an den Start gehen. In vielen Kommunen laufen die Vorbereitungen. Auch in Apensen - allerdings wird sich dort nicht allzu viel ändern: Denn das Prinzip des integrierten Unterrichts wird dort schon seit fast zehn Jahren verfolgt.

Wie die Haupt- und Realschule Kehdingen, die schon seit 1999 auf diese Weise unterrichtet, setzte das Schulzentrum Apensen auf Methoden, die über mehrere Jahre nicht der geltenden Gesetzeslage entsprachen. Die Arbeit wurde von den Behörden stillschweigend geduldet. Mittlerweile haben sich die Gesetze der Realität in Apensen angepasst. Und die kleine Gemeinde südlich von Buxtehude ist ein begehrter Ausflugsort.

"Wir bekommen viel Besuch von Lehrern, die sich unseren Unterricht einmal ansehen möchten", sagt Schulleiter Günter Bruns. Aus Zeven und Bremervörde würden die Pädagogen anreisen, auch eine Delegation aus einem Ort bei Osnabrück war schon dabei. Dabei würden zwei Fragen immer zuerst gestellt: "Wie macht man Unterricht für Kinder unterschiedlicher Schulformen? Wird dabei nicht das Niveau gesenkt?"

Klassenlehrerin Silvia Holtfreter hat eine klare Antwort: "Nein. Die Hauptschüler fallen hier kaum auf. Im Gegenteil geben die sich natürlich Mühe, den Anschluss zu halten." Die Leistungsstärkeren hingegen würden davon profitieren, dass sie anderen helfen können. Zudem gebe es eine Binnendifferenzierung: Für die vier Hauptschulkinder in ihrer Klasse arbeitet Silvia Holtfreter andere Aufgaben als für die restlichen 20 Schüler, sie bekommen auch andere Klassenarbeiten. Wenn sie allerdings wollen, können sie auch die Arbeiten ihrer Realschul-Kollegen mitschreiben. Wenn es bei dem Erfolg bleibt, können die Kinder ganz still zum Halbjahr die Schulform wechseln - und dabei in derselben Klasse bleiben.

Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Haupt- und Realschulkindern? Silvia Holtfreter hat ein differenziertes Bild: "Ich erkenne schon, wenn ich die Arbeit eines Hauptschulkindes vor mir habe. Und auch am Arbeitstempo merkt man es häufig. Andererseits sind die Leistungen von Hauptschulkindern teilweise sogar besser. Besonders in Fächern wie Mathematik gibt es das Phänomen." Wie Schulleiter Günter Bruns ist auch Silvia Holtfreter eine überzeugte Verfechterin des Modells des gemeinsamen Unterrichts.

So weit die Sicht der Pädagogen - und auch Niels, Kenneth und Ricardo versichern glaubhaft, dass sie den Unterricht an ihrer Schule gut finden. Doch wie stehen die Eltern zum Apenser Modell?

"Ich bin wirklich hellauf begeistert. An dieser Schule scheint es wirklich ein Geben und Nehmen zwischen den Schülern zu sein", sagt Ricardos Vater Andreas Bürth. Ihm sei es durchaus wichtig, dass das "Gesamtniveau" stimme - doch das sei in Apensen gewährleistet. Ähnlich sieht es Kenneths Mutter Edith Reigber: "Das Modell ist absolut vorteilhaft. Kenneths älterer Bruder war auf einer normalen Realschule. Dort war der soziale Aspekt nicht so ausgeprägt."

Nils' Mutter Yvonne Rademacher, die mit ihrem Sohn erst vor wenigen Wochen nach Apensen gezogen ist, kommt zu einem ähnlichen Urteil: "An unserem ehemaligen Wohnort musste Nils noch in eine normale Hauptschule gehen. Ich finde es gut, dass die Klassen hier gemischt sind. Da gibt es nicht das Klischee vom Haupt- und vom Realschüler". Klischees scheint auch Nils nicht zu mögen - zumindest nicht auf seinen Bildern. Denn Feld- und Stadtmäuse sind hier vor allem eines: Mäuse.