Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung gestaltet sich schwierig

Lüneburg. Die Inklusion, die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung, ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Doch ein Bildungssystem, das niemanden ausschließt, verlangt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Seit März 2009 ist sie auch in Deutschlang in Kraft. "Damit ist gemeint, dass der gemeinsame Unterricht aller Kinder die Regel und die Sonderbeschulung die Ausnahme sein soll", sagt Gerhard Bothmann, Leiter der Kurt-Löwenstein-Schule in Bleckede.

Sie ist eine Förderschule mit den Schwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung. Die Inklusion - der sich Deutschland mit Unterzeichung der UN-Konvention verpflichtet hat - war schon während Bothmanns Studienzeit in den 80er Jahren ein großes Thema. "Wir haben alle davon geträumt, dass eines Tages die Förderschulen geöffnet werden."

Weit ist die Inklusion nicht gediehen. Von den 37 Grundschulen im Landkreis Lüneburg arbeiten zwar 15 mit regionalen Förderschulen zusammen. An weiterführenden Schulen dagegen bleibt der gemeinsame Unterricht bisher noch der Sonderfall. Das belegt eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung.

Dass der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts an Schulen sehr wohl möglich ist, aber regional sehr unterschiedlich vorankommt, zeigt der Bundesländervergleich: Im Grundschulbereich erhalten in Bremen bereits 90 Prozent aller Kinder inklusiven Unterricht, in Hessen und Nordrhein-Westfalen sind es weniger als zehn Prozent. Zahlen für Niedersachsen liegen nicht vor.

Zu den Sonderfällen im Landkreis zählt die Haupt- und Realschule aus Bardowick. Mit Beginn des neuen Schuljahrs nehmen sechs Fünftklässler aus der Schule am Knieberg am Unterricht an der Hauptschule teil. Die Kooperation kommt für Schulleiterin Christiane Bewig einem Sprung ins kalte Wasser gleich, zumal die Schule alles andere als behindertengerecht eingerichtet ist. Zwar gibt es eine Toilette für Behinderte, nicht jedoch einen Fahrstuhl. "Mut zur Lücke gehört dazu", sagt die Schulleiterin. "Was soll passieren? Es reicht nicht aus, nebeneinander zu leben. Man muss miteinander leben." Den Anlass zu diesem Schritt gaben Anfragen von Eltern aus Melbeck. Deren Förderkinder besuchten bisher die dortige Grundschule. Für sie folgt nun der Besuch der weiterführenden Regelschule in Bardowick.

Kooperation bedeutet im Fall der Hauptschule, dass eine Klasse der Schule am Knieberg in Bardowick untergebracht ist und stundenweise gemeinsam mit einer Partnerklasse unterrichtet wird.

"Alle haben sich gewundert, warum diese Kinder plötzlich da sind", sagt Bewig. Und für alle sei es ein Gewinn geworden. Die begleitende Sonderschullehrerin Marion Witte nennt Vorzüge der gemeinsamen Beschulung: "Die Sonderschulen sind oftmals Schoninseln für die Kinder. Hier in Bardowick gibt es viele neue Kontakte für unsere Schüler." In den Freistunden findet ein reger Austausch zwischen den Klassen statt. Die Schüler sind neugierig auf die Gäste vom Knieberg. Schulleiterin Bewig hatte im Vorwege Schlimmeres befürchtet. Mittlerweile hat sie erfahren, wie anstrengend ein Schultag für die neuen Schüler ist. "An manchen Tagen geht gar nichts." Die Kooperation der beiden Schulen ist auf zwei Jahre angelegt, dennoch fürchtet sich das Kollegium vor der Zeit, wenn die die Neuen in die Pubertät kommen. "Das kann sehr anstrengend werden", sagt Bewig.

Bisherige Erfahrungen jedoch haben ihr gezeigt, dass behinderte und nicht behinderte Schüler voneinander profitieren. Gemeinsames Lernen bedeutet die Möglichkeit, die Vielfalt des Lebens kennen zu lernen. Sowohl die Möglichkeit der behinderten Kinder, sich an Normalität zu orientieren, als auch der neue Blickwinkel auf Normalität, Behinderung und Leistung, der sich für die nicht behinderten Kinder ergibt, bedeutet ein Vorteil für alle Beteiligten.

Davon weiß ebenfalls Gerhard Bothmann zu berichten: "Allerdings sind die Vorbehalte der Eltern von Kindern ohne Behinderungen nicht zu unterschätzen." Oft befürchteten sie ein Absinken des Lernniveaus bei der Aufnahme von Förderkindern im Unterricht. Eine erfolgreiche Inklusion wird die Auflösung der Förderschulen nach sich ziehen. Wie das sein wird? "Da sehen wir ein großes Fragezeichen", so der Leiter der Förderschule Bleckede. "Wenn alle Förderlehrer ihren Unterrichtsschwerpunkt in die allgemein bildenden Schulen verlagern, dann wird die Förderschule überflüssig. Stattdessen soll zur Koordination ein Förderzentrum ausreichen."

Noch allerdings sorgt das Thema Inklusion für Unruhe und Ängste. "Die meisten Kollegen an Haupt- und Realschulen fühlen sich überfordert." Bothmann kennt die üblichen Ausreden der Kollegen. "Die Inklusion kommt so plötzlich."

Deshalb pflegt er mit den anderen Schulleitern im Schulzentrum Bleckede einen regen Austausch. Gemeinsam haben sie einen "inklusiven" Weihnachtsmarkt veranstaltet. Und auch die Eltern der vier Schulen diskutieren in einem vereinten Schulelternrat.

Einfacher lässt sich Inklusion in Kitas leben. Auch das belegt die Studie der Bertelsmann Stiftung. Danach spielen und lernen bundesweit 60 Prozent der Kinder mit Förderbedarf in Kindertageseinrichtungen gemeinsam mit anderen. In Niedersachsen ist ihr Anteil mit knapp 37 Prozent deutlich geringer.

Weil auch Niedersachsen die Dringlichkeit erkannt hat, fördert das Niedersächsische Kultusministerium seit Februar den Modellversuch "Gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung unter drei Jahren". Das Projekt umfasst landesweit 185 Plätze (LR berichtete). Aufgenommen in das Modell wurde die Lüneburger Krippe der Lebenshilfe "Die Farbklexe" am Bendikt. Zwei der zwölf Kinder sind behindert. Kultusminister Althusmann reagiert mit dem Projekt auf eine ab 2013 geltende Veränderung.

Danach haben alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf ein Betreuungsangebot.