Bis zu seinem dritten Geburtstag war Vincent ein gesunder Junge. Danach manifestierte sich eine Behinderung, die alles veränderte.

Harmstorf. An guten Tagen wirkt Vincent wie ein ganz normaler Siebenjähriger. Dann sitzt der Rotschopf ausnahmsweise ruhig am Esstisch und schlürft verschlafen seinen Kakao. Sein schwarzer Vampirumhang ist nach hinten geschlagen, einziger Hinweis auf eine Behinderung ist der etwas teilnahmslose Blick.

An schlechten Tagen kann Vincent auch anders. Dann vergräbt sich der Junge in einer Scheinwelt, flüchtet in seine Gedanken. Dann ist kein Herankommen an ihn. Denn seine Scheinwelt hat er Würzburg genannt. Der Zutritt für andere ist verboten. Dort, in seinem Kopf, ist er erwachsen, verheiratet und hat 48 Kinder.

Es ist eine heile Welt, ohne die vielen unergründlichen Rätsel, die ihm Menschen in der realen Welt aufgeben. Doch Vincents emotionaler Rückzugsort geht mit gravierenden Schattenseiten einher. Wenn er zwischen den Welten pendelt, rumpelt er an Stühlen, wütet durchs Wohnzimmer, ist kaum zu bändigen. Dann bricht sich die psychische Störung Bahn, dann wird deutlich, dass Vincent am Asperger-Syndrom leidet - einer Form von Autismus. Risperdal, das Neuroleptikum, das er dreimal täglich nimmt, hilft dann kaum.

Großer Stress für die Eltern

Für seine Eltern bedeutet das Stress. Denn es ist ein Alltag mit Doctor Jekyll und Mister Hide. Ein Alltag, der an die Substanz geht, der an den Nerven zerrt. Und das spiegelt sich in den Gesichtern der Eltern. Die dunklen Augenringe erklärt Mutter Michaela mit den Worten: "Ich bin gefühlte 80 Jahre alt." Eltern autistischer Kinder erleben nachweislich mehr Stress als Eltern von Kindern mit anderen Krankheiten oder Behinderungen. Von Experten wird sogar angenommen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Stressbelastung der Eltern und den Verhaltensproblemen ihrer Kinder gibt.

Vincents Mutter falle besonders das Pendeln zwischen den Welten, das Machtlose im Umgang mit ihrem Sohn schwer. Resignation schwingt mit, wenn sie sagt: "Ich komme mit dem Wechsel von Vincents Stimmungen nicht zurecht. Mal erklärt er uns die kompliziertesten Sachen, im nächsten Moment rastet er aus, tritt und schlägt um sich. Und in solchen Momenten erkennt man sein eigenes Kind kaum wieder."

Die Eltern mussten erst lernen, mit der Behinderung ihres Sohnes zu leben. Denn das Tückische am Asperger-Syndrom ist, dass Kinder zunächst keine oder eher positive Auffälligkeiten zeigen. Sie erreichen sehr früh hohes Sprachniveau, bilden Spezialfähigkeiten aus und erklären anderen die Welt. Dabei nehmen "Aspies", wie die Kinder von der Erziehungswissenschaftlerin Liane Holliday Willey genannt wurden, keine Rücksicht darauf, ob andere ihr Spezialwissen auch hören wollen. Der Mangel an Einfühlungsvermögen enttarnt die Behinderung - meistens zwischen drittem und sechstem Lebensjahr.

Ein Großteil leidet an frühkindlichem Autismus

Wie Vincent leidet etwa ein Prozent der Weltbevölkerung an Autismus, allein in Hamburg sind es etwa 300 000 Menschen. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass jeder vierte Autist von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung wie dem Asperger-Syndrom betroffen ist. "Gesicherte Zahlen sind aber rar", sagt Barbara Rittmann, Leiterin des Hamburger Autismus-Instituts. Dennoch belege die Forschung, dass beim Großteil der Betroffenen "frühkindlicher Autismus" diagnostiziert wird, der sich bereits in den ersten Lebensjahren zeigt. Das Asperger-Syndrom, Vincents Behinderung, ist verhältnismäßig selten.

An der Wohnzimmerwand des Marmstorfer Reihenhauses hängen zahlreiche Fotos von ihm: Das letzte Bild, auf dem Vincent unbeschwert und glücklich aussieht, ist an seinem dritten Geburtstag entstanden: Er lacht, die Milchzähne blitzen, die Hände sind euphorisch nach vorn gereckt. Und wenn die Augen tatsächlich der Spiegel der Seele sind, lag an diesem Tag nicht der geringste Schatten auf Vincents Seele. Die blauen Augen strahlen, der Junge wirkt wach und unbekümmert. Niemand hätte gedacht, dass die Welt schon an seinem vierten Geburtstag eine andere ist.

"Er hat sich verwandelt", sagt seine Mutter Michaela B.. Irgendwann zwischen drittem und viertem Geburtstag. Wenn Dinge außerhalb festgelegter Rituale erledigt wurden, bekam Vincent Wutanfälle. Er schlug seinen Kopf gegen die Wand, verletzte sich selbst, konnte sich nicht in seine Kindergartengruppe integrieren. Er wirkte oft abwesend, es gab Schwierigkeiten. Der wissbegierige Junge entwickelte sich zu einem Problemkind.

Dabei hatten Ronald und Michaela B. lange Zeit geglaubt, ihr Kind sei ausschließlich hochbegabt. "Im Alter von zehn Monaten begann Vincent, Buchstaben aufzusagen. Fünf Monate später kannte er das gesamte Alphabet. Bereits als Zweijähriger begann er zu lesen", sagt Ronald B.. Die menschliche Anatomie lernte der Kleine in rasantem Tempo, erklärte seinen Eltern schon früh das Verdauungssystem, beherrschte den Computer. Mit nicht einmal vier Jahren wollte er eingeschult werden und absolvierte einen Test, den er nur wegen seines auffälligen Sozialverhaltens nicht bestand.

Probleme als lebenslange Begleiter

Vincents Eltern machten die Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes große Sorgen. Sie konsultierten Ärzte, absolvierten klinische Tests in Eppendorf und Altona. Am 12. Juli 2006 hatten die Marmstorfer Gewissheit, die Diagnose lautete: Asperger Syndrom. Vincent verbrachte danach vier Wochen in einer Tagesklinik, seine Entwicklung stagnierte trotzdem. Er bewegt sich momentan auf dem Niveau eines Vierjährigen.

Auf eigenen Wunsch sind die Wände in Vincents Kinderzimmer Schwarz gestrichen. Was auf andere bedrückend wirkt, beruhigt ihn. Derzeit nimmt Vincent bis zu drei Milligramm Risperdal, ein Medikament, das auch bei Schizophrenie eingesetzt wird. Damit wird der Alltag erträglicher, obgleich nur die Symptome bekämpft werden. Denn Autismus ist angeboren, teils vererbt, unheilbar - und wenn es schlecht läuft, dauern die Probleme ein Leben lang.

Das zermürbt die Eltern. Vincent geht in eine Integrierte Grundschule, hat einen Schulbegleiter an seiner Seite. Doch trotz großer Unterstützung kommt er nicht voran. Die Reizüberflutung kann er kaum verarbeiten. Er manipuliert, schafft den Stoff nicht, ist unzufrieden. "Und zu Hause weiß ich nicht, wie ich mit seinen Stimmungswechseln umgehen soll. Manchmal fühle ich mich, wie sein Möbelstück", so Michaela B.. "Ärzte haben uns überprüfte Diagnosen gegeben und Bücher empfohlen. Aber wir brauchen keine Diagnose. Wir brauchen Hilfe!" Nun soll noch ein Versuch gestartet werden. Vincent soll auf eine Schule für Körperbehinderte, vor allem der für ihn überschaubareren kleineren Klassen wegen.

Neben Arzt- und Therapiebesuchen kosten zusätzliche Diskussionen mit Krankenkassen und unzähligen Behördenstellen Zeit und Nerven. Dabei suchen die Eltern vor allem eines: ein "normales" Leben. Um ihrem Kind eine eigenständige Zukunft zu ermöglichen. Herkömmliche pädagogische Mittel greifen nicht. Das lässt die Eltern oft verzweifeln.

Ein Hochschulabschluss ist nicht unmöglich

"Aber eine Therapie ist möglich", sagt Barbara Rittmann, Leiterin des Autismus-Instituts Hamburg. Einmal wöchentlich werden in der Bebelallee 141 soziale Verhaltensweisen "trainiert", auch eine Beratung der Eltern findet statt. "Was andere Kinder im Alltag lernen, muss mit Asperger-Patienten mühsam geübt werden", so Rittmann. Augenkontakt halten, soziale Kompetenz erwerben, Situationen aushalten. Das passiere vor allem mit Vertrauen.

Wichtig sei, die therapeutische Unterstützung nicht abreißen zu lassen, so Rittmann. "Auch Schulwechsel können erfolgversprechend sein", sagt die Diplom-Psychologin. "Wir haben gerade einen Fall, bei dem ein junger Mann nach fünf Schulwechseln sein Abitur abgelegt und nun eine duale Ausbildung begonnen hat." Dieses Beispiel soll Mut machen. Ebenso die Aussicht, dass bald das Prinzip der "Inklusion" greifen soll. Damit sollen Regelschulen verpflichtet werden, behinderte oder psychisch gestörte Schüler ohne wenn und aber zu integrieren. "Das ist ein wichtiger Ausblick", so Rittmann.

Doch das, so Vincents Eltern, hilft ihnen vorerst nicht weiter. Momentan fühlen sie sich "isoliert", weil sie sich kaum mit "normalen" Familien treffen können. Sie traten diversen Organisationen bei, suchten auch die Selbsthilfegruppe des Landkreises auf. Vor allem, um nach einer Möglichkeit zu suchen "Vincents Potenzial zu erkennen" und "Austausch zu finden". Denn, so Michaela B.: "Vincent ist gerade kein Vorführautist mit toller Inselbegabung. Es ist nur schwer."

Und Vincent? Er kann die Situation erstaunlich gut reflektieren und sagt traurig: "Ich finde es doof, dass es mir so schlecht geht, dass Mama und Papa so viel Sorgen haben. Aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Leider."

Doch vielleicht findet Vincent irgendwann einen Weg, seine Besonderheiten zu einer Stärke zu bündeln, soziale Beziehungen aufzubauen. Denn vielen Asperger-Autisten gelingt das im Erwachsenenalter. Vincent würde dann nicht nur an guten Tagen wirken wie ein ganz normaler Junge. Er hätte sein Leben zurück. Eigenständig und (fast) unabhängig. Manche "Aspies" machen dank ihrer enormen Auffassungsgabe sogar Karriere.