Sönke Rix stammt aus Eckernförde und sitzt für die SPD im Bundestag. Den Wahlkampf in diesem Jahr beschreibt er als Demütigung.

Hamburg. Ich will nicht lange drum herumreden. Mein Jahr als Sozialdemokrat war so beschissen wie kein Jahr zuvor. Meine SPD hat 23 Prozent bei der Bundestagswahl geholt, sie hat ihre Regierungsmacht verloren und 76 Sitze im Parlament eingebüßt. Nichts ist gut daran.

Ich habe meinen Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde schon wieder nicht gewonnen. Aber weil ich auf der Landesliste auf Platz 5 stand, bin ich nun Deutschlands nördlichster SPD-Bundestagsabgeordneter. Und ich bin Oppositionspolitiker. Daran muss ich mich noch gewöhnen. In guten Momenten sage ich mir, dass ich jetzt die lupenreine SPD sein kann. Aber in der täglichen Parlamentsarbeit wird der Frust noch kommen. Nichts von dem, was wir im Bundestag einbringen werden, wird wohl umgesetzt. Ich werde Anfragen an die Regierung stellen müssen. Das habe ich noch nie gemacht. Früher hatte ich Zugang zu den Ministerien. Ich wusste unter Schwarz-Rot, was die Regierung tat und plante. Jetzt bin ich abgeschnitten. Ich würde lieber regieren, und ich glaube, dass auch Angela Merkel lieber mit uns als mit der FDP regieren würde.

Nun sieht die Realität anders aus. Ich habe in den ersten Wochen nach der Wahl zusehen müssen, wie sich Schwarz und Gelb zu einer Koalition verbünden. 2005 hatte ich noch ein bisschen mitformulieren können am Koalitionsvertrag. Ich habe an Gesetzen mitgeschrieben und kann heute behaupten, dass das Zivildienstgesetz, das Freiwilligendienstgesetz und die Gesetze zum Kita-Platz-Ausbau auch meine Handschrift tragen. Das macht mich stolz, immerhin. Vor meiner Zeit im Bundestag betreute und förderte ich behinderte Menschen. Ich bin gelernter Erzieher und habe kein Abitur. Wenn die Berliner Republik als Raumschiff beschrieben wird, kann ich dem nicht widersprechen. Das richtige Leben findet dort nicht statt. Das findet zu Hause in unseren Wahlkreisen statt.

Ich bin bei der "Parlamentarischen Linken" und Mitglied der "Denkfabrik". Ich gehöre zu einem kleinen Kreis von SPD-Abgeordneten, die sich regelmäßig auch mit Kollegen der Linkspartei treffen. Ich will diese Partei normal behandeln, so wie ich die FDP behandle. Ich will wissen, wie die Linke tickt. Früher dachte ich, diese Partei würde ich überleben. Aber die Linke ist wohl leider nicht mehr wegzudenken. Wir müssen auch sie zur Verantwortung zwingen.

Ich bin der Drittjüngste in der SPD-Fraktion - mit 34. Eigentlich beschämend, wir sind im Durchschnitt viel zu alt. Mit 29 kam ich in den Bundestag. Damals war ich blond. Mir fallen längst graue Strähnen in die Stirn, und ein bisschen mehr wiege ich auch als am Anfang meiner politischen Karriere. Die begann in der Kleinstadt Eckernförde an der Ostsee. Meine Eltern, Bauingenieur und Hausfrau, hatten die "Frankfurter Rundschau" im Abo, schauten die Tagesschau, ärgerten sich über Helmut Kohl und sprachen auch am Esstisch über Politik. Sie gehörten keiner Partei an, aber sie waren Sozialdemokraten, wie sie sich ein Willy Brandt nur hätte wünschen können. Das war mein Fundament.

Auf meiner Realschule wurde ich Klassensprecher, dann Schülersprecher. Ich organisierte eine Friedenskundgebung gegen den Golfkrieg, dann fragten die Jusos bei mir an. Ich wurde einer von ihnen, aber wollte nicht sein wie die meisten von ihnen: erst über Krieg und Frieden diskutieren und dann einfach nach Hause gehen. Ich wollte Politik machen. Mit 18 wurde ich für die SPD Ratsmitglied in Eckernförde. Da war ich zum ersten Mal echter Politiker. Ich konnte mit dafür sorgen, dass die Stadt eine Skateboard-Anlage bekommt und dass das Jugendzentrum erweitert wurde. Wir hatten eine absolute SPD-Mehrheit im Rat, und im Land regierte erst Björn Engholm, dann Heide Simonis. Es waren tolle Jahre für Sozialdemokraten.

Ich musste mich nie um einen Posten drängeln. Meistens wurde ich gefragt. Mit Anfang 20 kam ich in den SPD-Kreisvorstand, mit 25 war ich Vorsitzender des größten Kreisverbands von Schleswig-Holstein, und dann kam schon der Bundestag. Es ging immer aufwärts. Im Familienausschuss habe ich neben Franz Müntefering gesessen. Jetzt bin ich stellvertretender familienpolitischer Sprecher meiner Fraktion und Sprecher der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus. Eigentlich läuft es gut.

Trotzdem war dieses Jahr eine Katastrophe. Man muss nur die Wahlkämpfe von 2009 und 2005 vergleichen. Als ich vor vier Jahren zum ersten Mal antrat und für Gerhard Schröder in den Straßenwahlkampf zog, wurde ich überall beschimpft. Klar, da war die Agenda 2010, die Schröder 2002 nicht angekündigt hatte. Ich musste mich rechtfertigen, aber das wollte ich auch. Was wir an Reformen gemacht hatten, war zum großen Teil richtig und notwendig. Und was CDU und FDP damals planten - die Kopfpauschale, die höhere Mehrwertsteuer -, das ging zu weit. Am Ende des Wahlkampfes sagten mir die Leute: Euch gebe ich doch noch mal die Stimme. Diese Wende hatten wir vor allem auch Gerhard Schröder zu verdanken. Er war eine echte "Wahlkampfsau" und konnte einem wirklich Angst machen vor Schwarz-Gelb.

2009 war mein Wahlkampf viel härter. Ich wurde nicht mehr beschimpft, ich wurde ignoriert. Und wenn ich doch mal beschimpft wurde, dann auch noch dort, wo ich eigentlich ein Heimspiel hätte haben müssen: vor den Werkstoren der Fabriken und Handwerksbetriebe. "Euch wähle ich nicht. Ihr geht mir an mein Geld. Und wenn ich arbeitslos werde, dann geht ihr auch an mein Arbeitslosengeld", sagten mir die Leute ins Gesicht.

In diesem Wahlkampf habe ich noch einmal deutlich gespürt, dass wir mit den Ministerien, in denen wir Verantwortung hatten, nicht punkten konnten: Gesundheit, Soziales, Finanzen - all die Ressorts, die die Portemonnaies der Bürger betreffen. Das soll aber keine Entschuldigung sein. Wir hatten auch keine Themen mehr, sondern haben nur noch reagiert. Schon in den ersten Schröder-Jahren machte die Partei den entscheidenden Fehler. Die Führung koppelte sich inhaltlich von der Basis ab. Und Leute wie ich mussten in den Ortsverbänden rechtfertigen, was oben vollzogen wurde. Das konnte nicht gut gehen. SPD-Mitglieder sind nicht so wie CDU-Mitglieder, die nicht so sehr streiten wollen über ihre Programmatik

Ich habe als Kind, als Jugendlicher, als Juso, auch noch als junger Kommunalpolitiker die SPD als eine Partei der Rückkoppelung, der Analyse, der Gesprächskultur kennen gelernt. Kritik nach innen hatte immer Tradition bei uns. Alle SPD-Mitglieder sehen sich als gleichberechtigt. Nicht umsonst duzen wir uns. Wir duzen den Vorsitzenden und haben unsere Kanzler geduzt. Wobei: Ich hätte Skrupel, Helmut Schmidt zu duzen. Der ist eine andere Liga. Was ich aber sagen will: Es fiel mir sehr schwer, den Menschen klarzumachen, warum die SPD die richtige Partei ist. Ich konnte nur noch wenige Menschen bewegen, in die Partei einzutreten und leider noch weniger aufhalten, die Partei zu verlassen. Wir haben unsere Mitgliederzahlen seit Rot-Grün halbiert. Und ich wundere mich überhaupt nicht darüber. Es fehlte die große eigene Linie. Der Verweis auf die Große Koalition war unsere Ausrede. "Wir dürfen nicht anders, wir sind auf die Union angewiesen", haben wir immer gesagt. Ich hätte nichts dagegen gehabt, die Koalition platzen zu lassen. Einfach, um klarzumachen, dass es die SPD noch gibt. Und dass es ohne uns anders in der Republik wohl aussehen würde: Ohne uns hätten wir keinen Atomausstieg und kein Elterngeld. Aber CDU und CSU haben uns auch pulverisiert und ihre eigene Programmatik mitunter sozialdemokratisiert. Und von der anderen Seite hat uns die Linke in die Zange genommen.

Dass 2009 kein gutes Jahr werden würde, merkte ich schon 2008, als ich zu Gast bei der IG Metall war. Ich sprach vor den Gewerkschaftern in einem Dorfkrug bei Rendsburg über das Thema Rente. Ich betonte, dass ich für die Rente mit 67 gestimmt hatte. Dann kam die Aussprache. Sie kam einem vernichtenden Urteil gleich. Da wurde mir deutlich, dass wir das Vertrauen unserer Kernanhänger verloren hatten. Das war bitter. Ich bin selbst Gewerkschaftsmitglied bei Ver.di. Und wir Sozialdemokraten haben nicht mit dem Sozialstaat gebrochen, auch wenn das manche Gewerkschafter behaupten. Der Staat, für den wir stehen, fängt die Menschen auf.

So habe ich das auch den Menschen im Wahlkampf gesagt. Im September habe ich ungefähr 1000 Haustürgespräche geführt. Ich kam schon als Verlierer an die Haustüren, so fühlte sich das an. Ich ging bewusst in die Wohnviertel, in denen die Wahlbeteiligung traditionell am geringsten ist. Ich hatte eine gute Strategie, wie ich meinte, und merkte aber bald, dass ich den Wahlkreis verlieren würde. "Leute, das wird knapp", habe ich meinen Mitarbeitern gesagt. Man bekommt im Wahlkampf schnell einen Tunnelblick. Man ist umgeben von Parteifreunden, die ständig Optimismus verbreiten.

Im Bundestag war die Stimmung anders. "Das Ergebnis darf bloß nicht zu gut werden", haben einige SPD-Abgeordnete sarkastisch gesagt. Eine Wiederholung der Großen Koalition hätte die Partei dem Abgrund noch näher gebracht. Wir mussten schlicht in die Opposition. Ein Wahlkampf unter diesen Vorzeichen ist ziemlich merkwürdig. Ich hatte mir schon einen beruflichen Plan B überlegt, falls es mit dem Wiedereinzug nicht geklappt hätte.

Viele geschätzte Kollegen haben es nicht mehr in den Bundestag geschafft. Darunter wird die Partei auch finanziell leiden. Ich allein zahle neben meinem Mitgliedsbeitrag von 280 Euro noch eine Mandatsabgabe in Höhe von 680 Euro. Macht fast 1000 Euro zusammen, pro Monat. Ich habe nun auch mehr zu tun als früher. Ich bin dabei, mich an meinen neuen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier zu gewöhnen. Auch er hat richtig gekämpft vor der Wahl. Vielleicht dachte er, seine Popularität als Außenminister würde ihm nützen. Aber auch Klaus Kinkel hatte seinerzeit hervorragende Umfragewerte. Das muss man sich mal vorstellen!

Der Parteitag im November in Dresden hat mir gut getan. Sigmar Gabriel hat mich mit seiner Rede motiviert. Ich bin nun dabei, Gabriels Optimismus in meine 75 Ortsverbände zu tragen. Die Mitglieder sind wieder gefragt. Gabriel wird die Partei hoffentlich lange führen. Er ist wie Schröder ein Löwe. Den werden wir brauchen in vier Jahren. Irgendwann werden wir der Kanzlerin auch wieder gefährlich. Es muss uns aber gelingen, als Opposition die Sozialverbände und Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Dann hätten wir wieder eine Art Macht.

Noch ist die SPD ganz unten. In den Umfragen stehen wir sogar hinter unserem Ergebnis bei der Bundestagswahl. Wir sind auch erst am Anfang. Die SPD muss sich noch mit sich selbst beschäftigen. Das ist bitter nötig. Nach den letzten Wahlen haben wir zu wenig Analyse betrieben. Doch die brauchen wir, um wieder Vertrauen aufzubauen: zuerst bei unseren Mitgliedern und dann auch bei den Wählern.

Es wird lange dauern, bis man uns Sozialdemokraten wieder vertrauen wird und bis die Wähler uns wieder für die beste Wahl halten. Wenn ich sehe, wie viele Menschen seit der Bundestagwahl in die SPD eingetreten sind, aus Solidarität, dann ist das zumindest ein Vertrauensvorschuss. In einer Partei ist es eben wie in einer Ehe. Es gibt gute und auch mal weniger gute Zeiten. Ich habe geheiratet, noch in der Woche nach der verlorenen Wahl. Es tat gut, an diesem Tag nicht Sönke Rix von der SPD zu sein, sondern nur der Sönke, der sich traut und der bald Vater eines Sohnes wird. 2010 kann ein gutes Jahr für mich werden, das spüre ich. Auch wenn ich Sozialdemokrat bin.