Sprachstörungen, Übergewicht, Kopf- und Rückenschmerzen - es sind nicht immer körperliche Ursachen, wenn Kinder und Jugendliche leiden. Auslöser sind oft Armut oder ein Mangel an Zuwendung und Betreuung.

Wann muss mein Kind laufen können? Was kann ich tun, damit es gesunde, gerade Zähne bekommt? Wie kann ich es vor Krankheiten schützen? - Fragen, die Eltern beschäftigen, von dem Moment an, wenn ihr Baby auf die Welt kommt und sie die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen haben, einem Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden zur Seite zu stehen. Was alles dazugehört, damit Kinder "groß und stark" werden, beschreibt das Abendblatt in acht Folgen in der Serie "Gesunde Kinder - Kranke Kinder, Hamburger Ärzte geben Rat". Experten informieren darüber, wie eine gesunde Entwicklung aussehen sollte, welche Störungen und Krankheiten auftreten können und wie sie sich bemerkbar machen. Außerdem geben sie Ratschläge zur Vorsorge und Therapie von Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Mehr als 700 000 Kinder kommen jedes Jahr in Deutschland zur Welt. "Noch nie waren Kinder so gesund wie heute", sagt Dr. Klaus Gritz, Präsident des deutschen Berufsverbandes der Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin. Viele Krankheiten fallen heute durch verbesserte Vorsorge weg. Akute Erkrankungen wie Magen-Darm-Infektionen und Lungenentzündungen können besser behandelt werden. Durch diese Fortschritte der Medizin rücken andere Krankheiten in den Vordergrund. "Heute erreichen mehr Kinder mit chronischen Erkrankungen ein höheres Lebensalter, weil es für diese Krankheiten spezielle Therapien gibt. Zum Beispiel können Kinder mit schweren Herzfehlern, die früher gestorben wären, heute ein fast normales Leben führen, brauchen aber lebenslange ärztliche Begleitung", beschreibt Gritz. Gesellschaftliche Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit und steigende Scheidungsraten fordern auch bei Kindern ihren Tribut. "In Deutschland leben zwei Millionen Kinder und Jugendliche in materieller Armut", sagt Gritz. Und diese hat für die Kinder weit mehr Konsequenzen als die schmerzliche Erfahrung, auf vieles verzichten zu müssen. Die gesundheitlichen Folgen durch den Mangel an Zuwendung, Betreuung und Bildung - Gritz bezeichnet es als soziale Armut - sind beträchtlich und fangen schon bei der Geburt an. "Die Frühgeburtenrate ist bei Kindern aus sozial ungünstigen Verhältnissen höher als in etablierten Familien. Damit verbunden ist ein um 30 Prozent höheres Risiko, dass diese Kinder sich psychomotorisch und geistig nicht normal entwickeln", beschreibt Gritz. "Durch den Mangel an sozialer und körperlicher Zuwendung lernen sie später krabbeln, sitzen, laufen und sprechen. Im Kleinkindalter haben sie öfter Infektionskrankheiten, Karies sowie psychomotorische Störungen und leiden als Schulkinder häufiger unter Lern- und Sprachstörungen. In der Pubertät neigen sie mehr zur Depressionen, schlechter Körperhaltung, Übergewicht, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Einstieg in den Drogenkonsum", so der Kinderarzt. Soziale Armut findet sich auch in der "Wohlstandsverwahrlosung". "In reichen Familien kommt es vor, dass Kinder zu sehr sich selbst überlassen werden, weil die Eltern mit dem Job oder gesellschaftlichen Verpflichtungen beschäftigt sind. Viele Jugendliche sitzen vor dem Fernseher, suchen Ersatzbefriedigung im Essen und neigen zum Drogenkonsum", berichtet Gritz. Die gesundheitliche Versorgung dieser Kinder, ob arm oder reich, sollte verbessert werden, fordert der Chef der Kinderärzte: "Viele von ihnen, gerade die sozial Benachteiligten, tauchen in der Praxis des Kinderarztes gar nicht auf. Deswegen brauchen wir den öffentlichen Gesundheitsdienst. Mit Schulärzten und der Betreuung von Kindergärten kann dieser dafür sorgen, dass solche Kinder nicht durch die Maschen unseres Gesundheitssystems fallen. Ich halte es für einen katastrophalen Fehler, dass an dieser Ecke jetzt gespart werden soll", kritisiert Gritz. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte plädiert dafür, diesen Dienst auszubauen: "Der Schularzt sollte zum Betriebsarzt der Schule werden und das Fach Gesundheitslehre unterrichten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien sollten früh in den Kindergarten kommen, um Defizite in der Familie auszugleichen. Optimal wäre es, wenn Gesundheitserziehung im Kindergarten beginnt und in der Schule Familienkunde gelehrt wird, damit die Schüler lernen, wie sie sich eines Tages als Eltern verhalten sollten." Vorsorgemaßnahmen gehören für Gritz zu den wichtigsten Aufgaben der Kinderärzte. So würde er gern die Lücke zwischen den bereits bestehenden Vorsorgeuntersuchungen im Kleinkindalter und der Jugendvorsorgeuntersuchung J1 im Alter von 13 Jahren durch mindestens eine weitere schließen. "Im achten Lebensjahr sollte untersucht werden, wie sich Kinder in den Sozialisierungsprozess eingliedern, ob sie mit Schulproblemen fertig werden und ob sie gesund sind. In diesem Alter zeigen sich schon Fehlentwicklungen durch Bewegungsmangel und Fehlernährung", betont der Kinderarzt. Erheblichen Forschungsbedarf sieht der engagierte Kinderarzt noch in der Jugendmedizin: "Früher dachte man, die Jugend sei die gesündeste Zeit im Leben. Das scheint aber ein Irrtum zu sein. Die Ergebnisse der J1 zeigen, dass Jugendliche durchaus gesundheitliche Probleme haben, vor allem Störungen im Bewegungsapparat, psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen sowie psychische Störungen."