Psyche: Trotzphase und “Fremdeln“ gehören zur normalen seelischen Entwicklung eines Kindes. Für die Eltern ist dies oft eine Gratwanderung: Sie sollten einerseits Respekt und Verständnis zeigen, andererseits dem Nachwuchs Grenzen aufzeigen.

Lange hat sich Frank darauf gefreut, sein Patenkind nach Monaten wieder mal zu besuchen, doch der zehn Monate alte Toby flüchtet in die Arme seiner Mutter und weigert sich, dem "fremden" Mann auch nur einen Blick zu schenken. Dieses "Fremdeln", das meist im achten Lebensmonat beginnt, ist ein normales Stadium der seelischen Entwicklung. "Darin zeigt sich, dass das Kind zwischen Vertrautem und Fremdem unterscheiden kann. Es hilft ihm, ein Ich-Gefühl zu entwickeln", erklärt Prof. Michael Schulte-Markwort, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). "Wenn dieses Fremdeln sehr extrem ist, also das Kind bei jeder Annäherung eines Fremden sofort anfängt zu schreien, oder wenn es über das zweite Lebensjahr hinaus anhält, kann sich dieses Verhalten als Trennungsangst bzw. Schulphobie fortsetzen", sagt der Kinderpsychiater. Dann sind die Kinder nicht in der Lage, in den Kindergarten und später in die Schule zu gehen, weil sie sich nicht von der Mutter trennen können. "Deshalb ist es wichtig, einen Kinderpsychiater aufzusuchen, wenn Fremdeln oder Trennungsangst sehr ausgeprägt und lang anhaltend sind." Ab dem zweiten Lebensjahr kann es stürmisch werden: Das Kind schreit, wirft sich auf den Boden, wenn es seinen Willen nicht bekommt. Das Lieblingswort in diesen Trotzphasen, die bis zum siebten Lebensjahr immer wieder kehren, ist Nein. "Aber nur darüber entwickelt das Kind ein weiteres Gefühl von Ich, Selbst und Selbstwert", so Schulte-Markwort. Deshalb sollten Eltern Verständnis aufbringen, auch wenn es manchmal schwer fällt, was allerdings nicht bedeutet, aggressiven Äußerungen des Sprösslings immer nachzugeben. "Wenn man solchen extremen Verhaltensweisen nicht Einhalt gebietet, kann sich daraus chronische Aggressivität entwickeln. Eltern wollen konsequent sein. Doch es gibt immer Ausnahmen, und dann bekommt das Kind eben sein Eis. Bedenklich wird es, wenn Nachgeben zur Regel wird. Daraus können die ,wohlstandsverwahrlosten' Kinder werden, die gewohnt sind, alles zu bekommen, bei jedem Nein anfangen zu toben." Eltern sollten Trotzverhalten aber auch nicht unterdrücken - ein Balanceakt, der nicht immer gelingt. "Ein Kinderpsychiater sollte aufgesucht werden, wenn starke Trotzphasen länger als drei Monate anhalten oder Kinder sich selbst oder anderen weh tun", rät der Facharzt und nennt ein Beispiel aus seiner Sprechstunde: Die Mutter erzählt, dass sie ihren dreijährigen Sohn nicht mit anderen Kindern spielen lassen kann, weil er diese sofort beißt. Sind mehrere Kinder in einer Familie, wird um Spielzeug gestritten, darum, wer auf Mamas Schoß sitzen darf oder kontrolliert, ob das eigene Eis genauso groß ist wie das des Bruders. "Das Gefühl, zu kurz zu kommen, bewegt alle Geschwisterkinder. Wichtig ist, allen Kindern zu zeigen, dass für sie genug Platz ist. Da kann es auch helfen, mit einem Kind allein zum Beispiel einmal in der Woche schwimmen zu gehen", sagt Schulte-Markwort. Im Alter zwischen drei und fünf entdecken Kinder das andere Geschlecht: "Papa, wenn ich groß bin, heirate ich dich." Besonders kleine Mädchen brauchen in diesen Zeiten viel Zuwendung vom Vater. Wenn er nicht reagiert, wächst das Gefühl, nicht geliebt zu werden, nichts wert zu sein. Dann kann aus der Tochter eine lebensunsichere Frau mit wenig Selbstbewusstsein werden. Erwachsen werden ist nicht einfach. Denn in der Pubertät tauchen neue Fragen auf: Wer bin ich? Wie bin ich? Wie unabhängig bin ich? "Es geht um Autonomie, Identität und Ablösung von den Eltern. Jugendliche sind so unsicher, dass sie sich oft über Äußerlichkeiten definieren. Kleidung und Musik signalisieren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe", beschreibt Schulte-Markwort dieses Lebensgefühl. Um selbstständig zu werden, brauchen Jugendliche Vorbilder, die sich von den Eltern unterscheiden. "So ist es zum Beispiel zu erklären, dass Kinder der 68er-Generation erzkonservativ wurden - die damals so genannten Popper." Auch in diesem Alter sollten Eltern sowohl Verständnis und Respekt zeigen als auch Grenzen ziehen. "Eltern müssen Antworten geben, dürfen nicht den Kopf einziehen, in der Hoffnung, dass der Sturm schnell vorüberzieht." Genauso falsch ist es zu versuchen, mit tyrannischem Auftreten der Situation Herr zu werden. Da müssen Eltern einiges wegstecken können, wenn zum Beispiel ihre Sprösslinge immer wieder betonen, wie peinlich doch ihre Eltern sind. "Man muss antworten, streiten, darf sich davon aber nicht existenziell bedroht fühlen und sollte einen langen Atem haben", so Schulte-Markwort.