Hamburgs Verfassungsschutz will die als islamistisch geltende Gemeinschaft nicht mehr beobachten. Ein bundesweiter Trend. Die CDU übt Kritik.

Hamburg. Der Wandel ist augenscheinlich: Nahm die Passage zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) im Hamburger Verfassungsschutzbericht für 2012 noch drei Seiten ein, sind es nun drei Zeilen. Ab dem kommenden Jahr, erfuhr das Abendblatt, soll Milli Görüs in dem Register der verfassungsfeindlichen Kräfte nicht mehr auftauchen. Ein bundesweiter Trend – vorangetrieben vor allem von Hamburg. Hier blicken die Sicherheitsbehörden nicht mehr auf Mitglieder aus dem IGMG-Landesverband Bündnis Islamischer Gemeinden (BIG) in Norddeutschland.

„Nach unserer Einschätzung gehen vom BIG praktisch keine Aktivitäten mehr aus, die eindeutig als Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gesehen werden müssen“, sagte der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Manfred Murck. Zwar sei die Tradition der Milli Görüs aus der Türkei „nach wie vor nicht mit den Grundprinzipien unserer Verfassung vereinbar“. Dennoch hätte sich die IGMG in Deutschland regional unterschiedlich entwickelt. Nun werde es „keine umfassende Beobachtung der gesamten IGMG mehr geben“, so Murck. Man blicke stattdessen auf „Gruppen und Moscheevereine, die sehr traditionalistisch und antilaizistisch geprägt sind“.

Milli Görüs ist laut Behörden mit etwa 31.000 Mitgliedern die größte islamistische Organisation in Deutschland. Sie betreibt mehr als 300 Moschee- und Kulturvereine. Ihren Ursprung hat die Bewegung in der Türkei. Der Name Milli Görüs geht auf den türkischen Politiker Necmetin Erbakan zurück, der seit 1970 die Errichtung einer „gerechten Ordnung“ auf strenger islamischer Grundlage forderte, als Gegenpol zur laizistischen Staatsdoktrin von Kemal Atatürk. Erbakan hatte sich zudem antisemitisch geäußert. 2010 gab es in Deutschland Razzien gegen einen Verein, der Hamas-nahe Hilfsgruppen im Gazastreifen unterstützt haben soll. Damals forderten CDU-Innenpolitiker ein Verbot von Milli Görüs.

Laut Behörden und Islamismus-Experten hätten sich in Deutschland Teile der Bewegung reformiert, vor allem das BIG, das bundesweit den Reformflügel vertrete, der die Ablösung von Erbakan betrieben habe. „Die führenden Vertreter sind ja zu Recht Teil des öffentlichen Lebens geworden“, sagte Murck. „Wir sehen keine verfassungsfeindlichen Aktivitäten mehr, haben deshalb die Beobachtung heruntergefahren, für die wir auch kaum noch eine Basis hatten.“ Vor diesem Hintergrund spreche einiges dafür, dass im Jahresbericht 2014 stehe, „das BIG Norddeutschland wurde nicht mehr beobachtet“. Ein andere Frage sei, wie das in anderen Ländern und beim Bund eingeschätzt werde. Dies hänge von der jeweiligen Ausrichtung der IGMG ab.

Vieles spricht dafür, dass die angekündigte Öffnung ein bundesweiter Vorstoß ist. So hat nun auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) den Islamrat als einen der muslimischen Verbände wieder zur Islamkonferenz eingeladen. Der Islamrat war wegen seiner Nähe zu Milli Görüs in Kritik geraten. 2010 noch hatte de Maizière den Islamrat und damit auch Milli Görüs von der Konferenz ausgeschlossen, weil gegen führende IGMG-Vertreter wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt worden war. Die Ermittlungen wurden später eingestellt. Zudem wird nach dem Behördenversagen bei den NSU-Ermittlungen ein Umdenken beim Verfassungsschutz gefordert: Der Fokus soll künftig auf der gewaltbereiten Extremisten-Szene liegen, in Hamburg etwa auf der wachsenden Gruppe der sogenannten Salafisten und weniger bei der Beobachtung von religiös-ideologischen Gruppen wie Milli Görüs.

„Die Entscheidung des Verfassungsschutzes ist ungefähr zehn Jahre überfällig“, sagte Ahmet Yazici, stellvertretender Vorsitzender der BIG in Norddeutschland. Milli Görüs sei ein zuverlässiger Partner. „Natürlich kann ich nicht in die Köpfe unserer Mitglieder schauen. Aber seit meiner Amtszeit als Vorstand der BIG in Norddeutschland, seit 1991, hat es keine Verstöße gegen das Gesetz gegeben.“

Während die Innenpolitikerin der Hamburger Linken, Christiane Schneider, das mögliche Ende der Beobachtung begrüßte, kritisierte der Vize-Fraktionschef der Union im Bundestag, Thomas Strobl, im Abendblatt: „Wir müssen insgesamt auch die Grauzonen zum Islamismus im Blick behalten, daran hat sich nichts geändert. Es gibt derzeit keinen Anlass, die Beobachtung von Milli Görüs komplett einzustellen.“

Islamismus-Expertin Claudia Dantschke vom Zentrum für Demokratische Kultur in Berlin hebt hervor, dass Milli Görüs „keine homogene Gruppe“ sei. Die Organisation habe „Hardliner, die die Demokratie ablehnen. Aber es gibt auch moderate Kräfte und aus meiner Sicht eine große Masse an Mitgliedern, die weder den gemäßigten noch den radikalen Kräften zugehören“. Bei Milli Görüs habe es einen Generationswandel gegeben. „Junge Muslime, in Deutschland aufgewachsen, sind in wichtige Positionen der Organisation gekommen. Sie bekennen sich klar zu Rechtsstaat, Demokratie und Gewaltfreiheit“, betonte Nebahat Güclü, Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Hamburg. Genau wie sie hob auch der Bundesvorsitzende Kenan Kolat die Bedeutung eines Dialogs zwischen Staat, Gesellschaft und Milli Görüs hervor. Da gebe es unterschiedliche Wertevorstellungen beispielsweise bei der Rolle der Frau, dem Familienleben oder Homosexualität. „Aber diese Streitpunkte gibt es auch in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche“, so Kolat.