Trotz milliardenschwerer neuer Ausgaben soll es weder neue Schulden noch Steuererhöhungen geben. Das Hamburger Abendblatt analysiert die wichtigsten Ergebnisse.

Rente

Etwa neun Millionen Rentnerinnen (und einige Rentner) mit vor 1992 geborenen Kindern bekommen mehr Geld. Für jedes Kind bekommen sie ab Juli 2014 einen zusätzlichen Rentenpunkt, der im Westen derzeit 28,14 Euro und im Osten rund 25,74 im Monat wert ist. Finanziert werden die jährlichen Kosten von etwa 6,5 Milliarden Euro aus den Beitragsmitteln der Rentenversicherung – also durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Wer 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung aufweist, kann ab Juli 2014 mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Dabei werden Zeiten der Arbeitslosigkeit mitgerechnet. Aber die Union hat in den Schlussverhandlungen eine deutliche Einschränkung hinzugefügt: Das Zugangsalter zur abschlagfreien Rente steigt „schrittweise parallel zur Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters auf das vollendete 65. Lebensjahr“. Im Jahr 2029 ist die 2012 begonnene schrittweise Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre abgeschlossen. Demnach wäre 2031 die abschlagfreie Rente erst mit 65 Jahren möglich. Auch die Erwerbsminderungsrenten steigen zum 1. Juli 2014 dadurch, dass die Zurechnungszeit mit einem Schlag von 60 auf 62 Jahre angehoben wird. Dadurch werden Erwerbsgeminderte so gestellt, als ob sie bis 62 gearbeitet hätten. Die Renten von Geringverdienern, die 40 Jahre Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt haben, sollen auf bis zu 30 Rentenpunkte aufgestockt werden. Das entspricht heute knapp 850 Euro im Westen. Die Einführung ist für 2017 geplant.

Systemfehler

Abendblatt-Experte Christoph Rybarczyk sagt: Die vordergründigen Verbesserungen bei der Rente werden mit einem schweren Fehler erkauft: Die Beitragszahler, also Arbeitnehmer und ihre Firmen, werden dabei belastet. Anders als üblich zahlen nicht alle Steuerzahler für diese Extraleistungen. Dadurch wird auch der Beitrag nicht gesenkt. Von sinkenden Beiträgen hätten auch die heutigen Rentner profitiert. Denn: Haben Arbeitnehmer ein höheres Netto, werden kurz darauf auch die Renten stärker erhöht. Weiterer Nachteil: Die Milliarden-Reserven der Rentenkasse, für die die Beitragszahler mit ihrer Arbeit sorgen, schmelzen schneller. Die neue Regierung muss anders als die untätige alte eine Strategie festlegen, wie man den Renteneintritt flexibler gestalten kann. Es fehlt zudem eine übersichtliche Förderung der privaten Altersvorsorge und ein Plan für die junge Generation. Mit diesen neuen Regeln werden Alte gegen Junge ausgespielt.

Doppelpass

Die Optionspflicht soll wegfallen. Das heißt, wer als Kind ausländischer Eltern in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, soll auf Dauer die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen und sich nicht länger als junger Erwachsener für einen der beiden Pässe entscheiden müssen. Die SPD hat sich an dieser Stelle mit ihrer Forderung durchgesetzt. Die Union hatte sich lange gegen eine Abschaffung der Optionspflicht gewehrt. Für jene, die nicht in Deutschland geboren sind, sondern erst später zuwandern und sich einbürgern lassen, soll sich aber nichts ändern. Das heißt, eine generelle Zulassung der Mehrstaatigkeit – wie von der SPD gefordert – kommt nicht. Die Union hatte sich mit dem Thema Doppelpass sehr schwer getan und die generelle Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften blockiert. Damit bleibt die rechtliche Lage für die später Zugewanderten je nach Herkunftsland uneinheitlich.

Seit 2000 gilt die Optionspflicht. Wer in Deutschland geboren ist und ausländische Eltern hat, bekommt demnach zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, muss aber bis spätestens zum 23.Geburtstag zwischen dem deutschen Pass und dem seiner Eltern wählen. Bislang haben 176 junge Leute wegen der Optionspflicht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Sie gehören zum Geburtsjahrgang 1990, für den die Regelung zum ersten Mal griff.

Nur die Hälfte des Weges

Abendblatt-Experte Christian Unger sagt: Jedes Jahr dürfen sich nun zwischen 3000 und 7000 junge Frauen und Männer freuen – überwiegend Menschen aus türkischen Familien. Die Jugendlichen, die hier geboren sind, müssen sich nicht mehr entscheiden zwischen zwei Staaten. Der Wegfall dieser Optionspflicht ist längst überfällig. Denn das Gesetz baute eine Mauer in den Köpfen der jungen Menschen auf: zwischen Deutschland, wo sie leben und arbeiten oder studieren, und dem Land ihrer Eltern, das die Jugendlichen oft noch ihre Heimat nennen. Und dennoch bleiben SPD und Union bei der Liberalisierung der Staatsbürger-Debatte auf halber Strecke stehen: CDU und CSU sperren sich gegen Mehrstaatigkeit für jeden Menschen in Deutschland. Mit dem Nein bedient die Union die konservative Klientel in der eigenen Partei und bei den Wählern. Mit Politik in einer globalen Welt, in der Menschen ein-, aus- und weiterwandern, Wurzeln in Familien aus verschiedenen Ländern haben, Arbeitsplätze international wechseln und mehrere Sprachen wie selbstverständlich lernen hat das nichts zu tun.

Familien

Union und SPD wollen das Elterngeld flexibler gestalten. Mit dem ElterngeldPlus sollen teilzeiterwerbstätige Eltern die Familienhilfe doppelt so lange in halber Höhe ausgezahlt bekommen. Zudem soll es einen Partnerschaftsbonus geben, wenn beide Elternteile parallel 25 bis 30 Wochenstunden arbeiten. Das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre unter dreijährigen Kinder nicht in eine öffentliche Einrichtung geben, bleibt. Von einer Streichung der Familienhilfe zugunsten des Kita-Ausbaus ist im Koalitionsvertrag nicht mehr die Rede. Die vor allem von der SPD lang geforderte Frauenquote kommt – allerdings in der deutlich abgeschwächten Form, wie sie die Union propagiert hat. Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen müssen von 2016 einen weiblichen Anteil von mindestens 30 Prozent aufweisen. Auch das von der SPD eingebrachte Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften ist vom Tisch. Allerdings soll darauf hingewirkt werden, „bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen“ zu beenden. Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, sollen beseitigt werden.

Familien fallen unten durch

Abendblatt-Experte Christian Unger sagt: Familien sind nicht die Gewinner dieser Verhandlungen. Sie fielen zwischen den Wohltaten von Mindestlohn bis Mütterrente durch das Sieb. Das ist bitter! Denn kaum etwas ist in Deutschland wichtiger als moderne Familienpolitik. Kostenlose Kita-Plätze? Fehlanzeige. Im Entwurf stand noch das Kapitel „Finanzielle Sicherheit für alle Familien“. Darin wurden Verbesserungen beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld angekündigt – ein Vorschlag der Union. Davon fehlt nun jede Spur. Die Union schwächelte.

In einem anderen Punkt blieb sie hart. Leider. Die Adoption des leiblichen Kindes des Partners ist Schwulen und Lesben bereits länger erlaubt, das gemeinsame Adoptieren eines Kindes aber nicht. Das soll aus Sicht der Union auch so bleiben. Dabei hatten sich die Koalitionäre vorgenommen, die „bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen“ zu beenden. Doch was ist eine größere Ausgrenzung für zwei Menschen, als ihnen das Recht auf ein gemeinsames Kind zu verwehren? Entscheidend ist nicht das Geschlecht der Eltern – sondern die Verantwortung, die Menschen tragen für ihr Kind. Es kommt auf die Werte an, die Erwachsene weitergeben. Abends vorlesen, Zärtlichkeit schenken, bei Hausaufgaben helfen oder beim Liebeskummer zuhören – zwei Männer können das so gut wie zwei Frauen oder Frau und Mann. Was Menschen im Bett machen, geht die Politik nichts an.

Gesundheit

In der gesetzlichen Krankenversicherung bleibt der Arbeitgeberbeitrag bei 7,3 Prozent und damit der Hälfte des allgemeinen Beitragssatzes eingefroren. Die Zusatzbeiträge, die klamme Kassen von ihren Versicherten erheben können, werden nicht mehr pauschal, sondern einkommensabhängig erhoben. Das schont Geringverdiener und Rentner. Der bereits heute von Arbeitnehmern allein zu tragende Beitragsanteil von 0,9 Punkten soll in den Zusatzbeitrag einfließen.

Zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung sollen die Anreize zur Niederlassung in unterversorgten Gebieten weiter verbessert werden. Unnötige bürokratische Anforderungen sollen abgebaut und die Rahmenbedingungen für Zulassungen für Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten flexibilisiert werden. Die Möglichkeit zur Zulassung von Krankenhäusern zur ambulanten Versorgung in unterversorgten Gebieten soll verbessert werden.

Für gesetzlich Versicherte soll die Wartezeit auf einen Arzttermin deutlich reduziert werden. Sie sollen sich zukünftig bei Überweisung an einen Facharzt an eine zentrale Terminservicestelle bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wenden können. Diese vermittelt innerhalb einer Woche einen Behandlungstermin. Für den Termin soll im Regelfall eine Wartezeit von vier Wochen nicht überschritten werden. Gelingt dies nicht, wird von der Terminservicestelle ein Termin – außer in medizinisch nicht begründeten Fällen – zur ambulanten Behandlung in einem Krankenhaus angeboten. Die Behandlung erfolgt dann zulasten des jeweiligen KV-Budgets.

Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung steigt zum 1. Januar 2015 um 0,3 Prozentpunkte und in einem zeitlich nicht festgelegten Schritt um 0,2 weitere Prozentpunkte.

Keine Freiheit für Kassen

Abendblatt-Experte Christoph Rybarzcyk sagt: Die Zusatzbeiträge in der Krankenversicherung werden nicht abgeschafft, sondern nur verschleiert. Besser und ehrlicher wäre es gewesen, man hätte den Krankenkassen selbst überlassen, wie hoch der Beitragssatz vom Monatseinkommen ist, den sie nehmen. Dann hätten die Versicherten auch besser vergleichen können. Sinnvoll ist, dass Qualitätsberichte zum Beispiel von Krankenhäusern demnächst online verfügbar sind und dass man unnötige Operationen vermeiden will. Die Termingarantie – in vier Wochen zum Facharzt, ansonsten ins Krankenhaus – ist lebensfremd.

Dass die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen, war erwartet worden. Auch hier gilt: Eine Große Koalition muss eine Demografie-Strategie vorlegen, die eine Antwort auf den Anstieg in der Zahl der Pflegebedürftigen gibt. Vernünftig ist, dass Betrüger im Gesundheitswesen nach einem Hamburger Vorschlag endlich schärfer bestraft werden können.

Finanzen

Union und SPD wollen ohne Steuererhöhungen auskommen und 2015 keine neuen Staatsschulden mehr anhäufen. Zugleich haben sie sich auf zusätzliche Ausgaben verständigt, die bis Ende 2017 aus dem Bundeshaushalt finanziert werden sollen. Die Kosten sollen sich auf 23 Milliarden Euro belaufen. Die Kommunen sollen zusätzlich um fünf Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung entlastet werden. Bereits vor Verabschiedung des Gesetzes soll mit einer jährlichen Entlastung der Kommunen in Höhe von einer Milliarde Euro begonnen werden. Die Länder werden in dieser Wahlperiode zur Finanzierung von Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschulen um sechs Milliarden Euro entlastet. Sollten die veranschlagten Mittel für Kinderbetreuung nicht reichen, werden sie aufgestockt. Ergeben sich beim Bund bis Ende 2017 zusätzliche Finanzspielräume, sollen sie zu einem Drittel für die Entlastung der Länderetats genutzt werden.

Für die dringend notwendigen Investitionen in die öffentliche Verkehrsinfrastruktur werden insgesamt fünf Milliarden Euro zusätzlich mobilisiert. Für die Städtebauförderung sollen insgesamt 600 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Als öffentliche Mittel zur Entwicklungszusammenarbeit sollen zwei Milliarden Euro bereitgestellt werden. Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung wird gegenüber den bisherigen Plänen um zwei Milliarden Euro erhöht. Der Mitteleinsatz für die Eingliederung Arbeitssuchender wird um 1,4 Milliarden Euro angehoben. Der Bund finanziert außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, den Hochschulpakt, den Pakt für Forschung und Innovation und die Exzellenzinitiative weiter. Den Aufwuchs für die außeruniversitäre Forschung finanziert der Bund künftig allein und stellt dafür drei Milliarden Euro zur Verfügung.

Auf tönernen Füßen

Abendblatt-Experte Egbert Nießler sagt: Auch wenn Union und SPD beteuern, ihre Finanzplanung sei seriös – sie steht auf tönernen Füßen und lebt zum Teil von Tricksereien. Einerseits kann die Gesamtrechnung allenfalls aufgehen, wenn die Konjunktur mindestens so positiv wie derzeit weiterläuft. Zum anderen werden versicherungsfremde Zusatzleistungen nicht, wie es ordnungspolitisch korrekt wäre, aus Steuermitteln bezahlt. Stattdessen wird die Rentenkasse geplündert. Der Steuerbürger springt also hier in seiner Eigenschaft als Beitragszahler ein. Und ist die Rentenkasse erst leer, die gesetzlichen Leistungen müssen aber weiter erbracht werden und die Konjunktur schwächelt, werden Steuererhöhungen – und möglicherweise auch neue Schulden – kaum vermeidbar sein. Aber die Geschichte ist ja bekannt: Helmut Kohl wollte die Einheit ohne Steuererhöhungen meistern und Hans Eichel 2006 ohne neue Schulden auskommen …

Maut

Nach massivem Drängen der CSU haben Union und SPD die Einführung einer Pkw-Maut in ihrem Koalitionsvertrag verankert. „Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen angemessenen Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Pkw erheben (Vignette)“, heißt es jetzt im Koalitionsvertrag. Verknüpft wird dies aber mit der „Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird“. Ein Gesetz für eine Vignette, die EU-rechtskonform auszugestalten ist, soll „im Verlauf des Jahres 2014“ verabschiedet werden. Ein Konzept liegt vorerst nicht vor.

Mit der Autobahn-Vignette sollen Fahrer aus dem Ausland für Investitionen in die deutschen Straßen zur Kasse gebeten werden. Eine Maut müsste für alle Autos gelten, da das EU-Recht eine Benachteiligung wegen der Nationalität untersagt. Die CSU hat eine Entlastung für Fahrer aus dem Inland etwa über eine niedrigere Kfz-Steuer vorgeschlagen. Für mehr Verkehrs-Investitionen wollen Union und SPD auch die auf Autobahnen und mehreren größeren Bundesstraßen fällige Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen ausweiten. In den nächsten vier Jahren sollen zudem insgesamt fünf Milliarden Euro mehr aus dem Bundesetat fließen.

Teuer für Autofahrer

Abendblatt-Experte Egbert Nießler sagt: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben“, hatte Kanzlerin Angela Merkel im Fernsehduell mit Herausforderer Peer Steinbrück versprochen. CSU-Chef Horst Seehofer wiederum wollte keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem nicht die Pkw-Maut für Ausländer vorgesehen sei. Wer ist nun wortbrüchig? Im günstigsten Fall – vor allem für die deutschen Autofahrer – niemand. Denn die Maut steht im Vertrag – ihre Einführung aber noch in den Sternen. Die europarechtlichen Hürden sind hoch. Denn nur die Vignette für Ausländer ist nicht erlaubt. Deren Pflicht auch für alle deutschen Autofahrer bei gleichzeitiger Verrechnung mit der Kfz-Steuer ist zwar möglich. Bürokratischer Aufwand und Kosten dürften dann aber in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu den Einnahmen stehen. Schließlich haben nur fünf Prozent der Pkw auf deutschen Autobahnen ein ausländisches Kennzeichen. Da es in der Bevölkerung aber viele Befürworter der Maut gibt, weil man ja selbst im Ausland schließlich auch zahlen müsse, dürfte dieses besondere teutonische Gerechtigkeitsempfinden für beides sorgen: Maut und Kfz-Steuer.

Energie

Der Ökostrom-Ausbau soll nach jahrelangem kräftigem Wachstum erstmals zur Kostendämpfung begrenzt werden. Bis 2025 wird der Anteil am Stromverbrauch per Gesetz auf einen Korridor zwischen 40 und maximal 45 Prozent festgelegt. Bis 2035 sollen es 55 bis höchstens 60 Prozent sein. Bislang hatte der Bund nur Mindestziele für Strom aus Wind oder Sonne genannt. Der jährliche Zubau liegt bei diesen Zahlen nicht nur unter dem Wachstum der vergangenen Jahre, er ist auch weit von den SPD-Zielen in den Verhandlungen entfernt. Auf der anderen Seite erhalten Betreiber von Gas- und Kohlekraftwerken, die wegen der Energiewende unter Druck stehen, mehr Raum und Planungssicherheit.

Am Atomausstieg wird nicht gerüttelt. Eine Kommission soll die Grundlagen für eine neue bundesweite Endlagersuche erstellen. Der Rechtsstreit zwischen Bund und Land Niedersachsen um den alten Standort Gorleben soll einvernehmlich geklärt werden. Die Gasförderung mit der umstrittenen Fracking-Methode soll vorerst nicht genehmigt werden. Union und SPD bekennen sich zum Ziel von 40 Prozent weniger Treibhausgas-Emissionen bis 2020 (im Vergleich zu 1990). Bis 2020 soll der Stromverbrauch weiter um zehn Prozent gesenkt werden. Geplant sind Förderprogramme, etwa mehr Geld für die Gebäudesanierung.

Probleme erkannt

Abendblatt-Experte Martin Kopp sagt: Der Koalitionsvertrag betont die Rolle der konventionellen Kraftwerke (Braunkohle, Steinkohle, Gas). Diese seien als Reserven unverzichtbar. Doch so deutlich wie die SPD gefordert hat, ist das Bekenntnis nicht ausgefallen. Diese hat erreichen wollen, dass schon für das Vorhalten der Kohlekraftwerke über einen so genannten Kapazitätsmechanismus Geld fließt. Doch hier äußert sich der Koalitionsvertrag schwammig. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien soll laut Vertrag bis 2030 ein Anteil von 55 bis 60 Prozent erreicht werden. Ein klarer Kompromiss: Union und SPD treffen sich in der Mitte. Die steigenden Strompreise hat der Vertrag als „Problem“ erkannt. Unklar bleibt er bei der Frage, wie die Kosten durch den Abbau von Überförderung und der Einspeisevergütung gedeckelt werden können. Fazit: Der Koalitionsvertrag hat die fehlende Steuerung der Energiewende als Problem klar benannt. Im Grundsatz sind alle Vorschläge zur Lösung des Problems richtig. Aufgrund der teils sehr schwammigen Formulierung liegt es nun an der konkreten Ausgestaltung, was daraus wird.

Sicherheit

Im Kapitel „Moderner Staat, innere Sicherheit und Bürgerrechte“ werden zuerst Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages angekündigt. Dessen Reformvorschläge für die Bereiche Polizei, Justiz und Verfassungsschutz, zur parlamentarischen Kontrolle der Tätigkeit der Nachrichtendienste sowie zur Zukunft der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sollen umgesetzt werden. Die Extremismusprävention der Bundesregierung soll gebündelt und optimiert werden.

Neben allgemeiner Kriminalitätsbekämpfung soll vor allem das Jugendstrafverfahren effektiver und praxistauglicher ausgestaltet werden. Wird ein junger Mensch straffällig, soll die Strafe der Tat auf dem Fuße folgen. Der Gedanken der Wiedergutmachung gegenüber Kriminalitätsopfern soll im Jugendstrafrecht gestärkt werden. Cybermobbing und Cybergrooming in sozialen Netzwerken sollen einfacher gemeldet und angezeigt werden können. Das Recht auf Privatsphäre soll an die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters angepasst werden.

Als Konsequenz aus der NSA-Affäre „drängen wir auf weitere Aufklärung, wie und in welchem Umfang ausländische Nachrichtendienste die Bürgerinnen und Bürger und die deutsche Regierung ausspähen“. Um Vertrauen wieder herzustellen, soll ein international rechtlich verbindliches Abkommen zum Schutz vor Spionage ausgehandelt werden. Damit sollen die Bürgerinnen und Bürger, die Regierung und die Wirtschaft vor schrankenloser Ausspähung geschützt werden.

Fehlender Aufklärungswille

Abendblatt-Experte Thomas Frankenfeld sagt: Das Kapitel „Freiheit und Sicherheit“ deckt ein sehr breites Spektrum ab, das vom Rechtsextremismus über Kinderpornografie, Stalking, Wirtschafts- und Cyberkriminalität bis zum NSA-Skandal und sogar dem Umgang mit dem SED-Unrecht reicht. Bemerkenswert bei all diesen Absichtserklärungen ist, dass die Konsequenzen aus der NSA-Spionage erst ganz am Ende des Kapitels und dann nur sehr kurz auftauchen. Das Drängen auf weitere Aufklärung sowie die Absicht, ein No-spy-Abkommen mit den USA abzuschließen, sind angesichts der US-Position ziemlich substanzlos. Konkreter ist das Ziel, die europäischen Telekommunikationsanbieter auf eine Verschlüsselung ihrer Daten und auf eine Nichtweitergabe an ausländische Nachrichtendienste zu verpflichten.

Europa

„Das europäische Einigungswerk bleibt die wichtigste Aufgabe Deutschlands“, heißt es gleich zu Beginn dieses Kapitels. Es soll alles dafür getan werden, dass Europa gestärkt aus der gegenwärtigen Krise hervorgeht. Nötig dafür seien Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und eine strikte, nachhaltige Haushaltskonsolidierung mit Zukunftsinvestitionen in Wachstum und Beschäftigung in sozial ausgewogener Weise. Ziel beim weiteren europäischen Krisenmanagement müsse es sein, die wechselseitige Abhängigkeit zwischen privater Verschuldung von Banken und öffentlicher Verschuldung von Staaten zu überwinden ebenso wie sicherzustellen, dass künftig in erster Linie die Banken selbst für ihre Risiken haften und nicht die Steuerzahler. Auch müssen die Regeln für Banken und Finanzmärkte so weiter verändert werden, dass Akteure der Finanzmärkte künftig nie wieder den Wohlstand von Staaten und Gesellschaften gefährden können. Die Finanzmärkte müssen an den Kosten der Krise beteiligt werden und letztlich auf ihre dienende Funktion gegenüber der Realwirtschaft zurückgeführt werden. Das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat für seine Verbindlichkeiten selbst haftet, müsse erhalten werden. Jede Form der Vergemeinschaftung von Staatsschulden würde die notwendige Ausrichtung der nationalen Politiken in jedem einzelnen Mitgliedstaat gefährden.

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei sollen weiter vertieft werden. Der Verhandlungsprozess läuft mit der Eröffnung neuer Kapitel weiter. „Die unbedingte Achtung der Werte, auf denen auch die EU fußt, wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Religions- und Meinungsfreiheit, und deren innerstaatliche Durchsetzung sind Voraussetzung für weitere Fortschritte.“ Die 2005 aufgenommenen Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts seien ein Prozess mit offenem Ende.

Türkei muss warten

Abendblatt-Experte Thomas Frankenfeld sagt: Auffällig im europapolitischen Kapitel ist die Formulierung, dass man das Vertrauen in das europäische Einigungswerk wieder stärken wolle; man stellt „Konstruktionsmängel“ in der Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine „Umbruchphase“ fest, in der Deutschland besonderen Erwartungen Europas ausgesetzt sei. Die Koalition zeigt sich grundsätzlich solidarisch mit besonders betroffenen Staaten – unterstreicht aber klar, dass jeder Staat für seine Verbindlichkeiten haften soll. Eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden wird ausgeschlossen – damit dann wohl auch Eurobonds. Ein Beitritt der Türkei zur EU wird bemerkenswert deutlich an die volle Erfüllung aller EU-Bedingungen geknüpft; für den Fall der Nichterfüllung wird jene „privilegierte Partnerschaft“ in Aussicht gestellt, die Angela Merkel bevorzugt. Interessant ist hierbei der Satz, dass „auch in der Türkei“ eine „Diskussion über die Frage der EU-Mitgliedschaft“ geführt werde.

Mindestlohn

Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde soll zum 1. Januar 2015 eingeführt werden – aber erst zwei Jahre später, von 2017 an, „uneingeschränkt“ gelten. Ausnahme eins: Die Branchenmindestlöhne gelten weiter. Sie werden beispielsweise am Bau, in der Gebäudereinigung, in der Pflegebranche, im Wachgewerbe und in der Zeitarbeit gezahlt. Sie liegen fast alle über 8,50 Euro. Die höchsten Mindestlöhne werden am Bau bezahlt (13,70 Euro in der Stunde). Ausreißer nach unten gibt es in Wäschereien (sieben Euro) und bei den Pflegehilfskräften im Osten Deutschlands (acht Euro). Ausnahme zwei: Tarifverträge gelten bis Ende 2016 weiter, auch dann, wenn sie Lohnabschlüsse enthalten, die unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro liegen. Ausnahme drei: Das Mindestlohngesetz soll „im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn wirksam wird“ erarbeitet werden. „Mögliche Probleme, z.B. bei der Saisonarbeit“ sollen bei der Umsetzung „berücksichtigt“ werden.

Es wird eine Kommission eingesetzt, der drei Arbeitgeber- und drei Arbeitnehmervertreter angehören. Beide Seiten können einen Experten ohne Stimmrecht hinzuziehen. Die Kommission soll den Mindestlohn von 8,50 Euro erstmals nach einem halben Jahr – im Juni 2017 – überprüfen mit dem Ziel einer möglicherweise notwendigen Anpassung zum 1. Januar 2018.

Viele Ausnahmen

Abendblatt-Experte Oliver Schade sagt: Die SPD hat sich beim Mindestlohn grundsätzlich durchgesetzt. Die deutsche Wirtschaft wird davon sicherlich nicht untergehen. Denn laut Arbeitgeberverband sind in lediglich 41 von insgesamt mehr als 15.000 Tarifverträgen die Einstiegslöhne geringer als 8,50 Euro. Die neue Regelung wird dennoch vor allem kleinere, nicht tarifgebundene Betriebe und bestimmte Branchen primär in Ostdeutschland – wie zum Beispiel das Friseurhandwerk – vor große Herausforderungen stellen. Vermehrte Schwarzarbeit dürfte dort eine der negativen Folgen sein. Allerdings stehen im Koalitionsvertrag zum Teil großzügige Übergangsfristen und der nicht unwichtige Satz, dass das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern erarbeitet werden soll und mögliche Probleme berücksichtigt werden sollen. So könnten die vereinbarten 8,50 Euro für viele Beschäftigte am Ende doch keine Gültigkeit haben. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Form von Minijobs sind ohnehin von der Mindestlohnregelung ausgenommen.