Nach der Bundestagswahl steht die FDP vor einem Scherbenhaufen. Der Parteichef gibt auf. Nun soll und will der 34 Jahre alte Christian Lindner es richten. Kann ein Neuanfang gelingen?

Christian Lindner muss das jetzt einfach noch mal: Er muss erinnern. Die eigene Partei erinnern, die Medien, die Wähler. Und für dieses liberale Gedächtnistraining holt er am frühen Nachmittag nach der schmerzhaften Wahlniederlage der FDP weit aus. Historisch weit. Die FDP, die Freie Demokratische Partei Deutschlands, habe in einer Regierung mit Kanzler Ludwig Erhard in den Geburtsstunden der Bundesrepublik die soziale Marktwirtschaft etabliert. Die FDP sei es gewesen, die vom Ende der 1960er-Jahre an gemeinsam mit Willy Brandt die Ostpolitik erneuerte. Es sei doch die FDP gewesen, die 1990 an der Seite von Kanzler Kohl in einer Koalition der Union die beiden deutschen Staaten wiedervereinigte. In Christian Lindners Stimme liegt Stolz. Er spricht klar in die Mikrofone, sein Blick ist smart, der Anzug liegt eng an, wie immer.

Für die FDP aber ist nichts wie immer. Die FDP wird keine Wirtschaftsreformen in den kommenden vier Jahren prägen, keine Leitlinien der Außenpolitik formulieren, nicht einmal am historischen Projekt der Energiewende wird sie beteiligt sein. Nicht in der Regierung, nicht in der Opposition. Keine Partei saß so lange mit ihren Abgeordneten im deutschen Parlament, mit der Union in einer Koalition, mehrere Legislaturperioden auch mit der SPD. 45 Jahre an der Regierung waren es insgesamt. Seit Sonntagabend steht fest: Die FDP findet nicht mehr statt. Auch der Wahltag war für die Liberalen historisch. Es war ein historisches Desaster.

Christian Lindner erinnert daran, dass die Liberalen die Zeitläufte der Republik mitgeprägt hatten. Aber er will nicht nur zurückschauen, er sucht die Flucht nach vorne, in die Zukunft. Es soll eine Zukunft der FDP geben. Mit ihm. Auch das steht für die Spitzenpolitiker der FDP am Tag nach der Wahl fest. Auf einem Sonderparteitag soll Lindner zum neuen Vorsitzenden gewählt werden.

Der jetzige Parteichef Philipp Rösler erklärt am Tag nach der Wahl seinen Rücktritt – und mit ihm gleich der gesamte Bundesvorstand der FDP. 54 liberale Politiker treten zurück, an einem Tag, dazu 20 FDPler des Präsidiums. Eine neue Arbeit müssen sich zudem die fünf Bundesminister und die 93 Abgeordneten suchen. Auch der gescheiterte Spitzenkandidat Brüderle spielt in der Partei keine Rolle mehr.

Wie Lindner spricht auch Rösler von einer „historischen Zäsur“ in der Geschichte der Partei. Es sei der „bitterste Abend für alle Liberalen in Deutschland“ gewesen. Nun wolle er den Weg frei machen für einen Neuanfang der Partei. Damit die Partei das liberale Potenzial ausschöpfen könne. „Es sind bestimmt 15 oder 20 Prozent der Menschen in Deutschland, die liberal denken, liberal fühlen, liberal leben wollen.“ Es sind Worte, die im einem Moment wie die Phrasen eines Fußballspielers daherkommen, der gerade ein wichtiges Endspiel verloren hat. Im nächsten Moment klingen die Worte schonungslos. Am Ende aber vor allem eines: vertraut.

„Gurkentruppe“ und „Wildsau“

Das schlechte Ergebnis der FDP kam nicht überraschend. Schon kurz nachdem sie bei der Bundestagswahl 2009 mehr als 14 Prozent der Stimmen geholt hatten, begann der Absturz in den Umfragen. In der Koalition mit der Union wurde die ersten Monate vor allem gezankt. Das sagen heute selbst viele hohe Regierungspolitiker. Die einen beschimpften die anderen als „Gurkentruppe“, zurück kam die Pöbelei mit „Wildsau“. Unter Parteichef Guido Westerwelle war die FDP ruppig, der Vize-Kanzler erregte die Gemüter mit scharfer neoliberaler Rhetorik („spätrömische Dekadenz“). Nach heftigen Stimmenverlusten bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz trat Westerwelle zurück. Im späten Frühjahr 2011 war das. Philipp Rösler kam. Er sprach von einem „mitfühlenden Liberalismus“, er war weich, sachlich im Ton. Viele in der Partei sahen ihn als Erlöser, der die kantige Westerwelle-Partei wieder in eine ernst zu nehmende politische Kraft verwandeln sollte. „Die FDP wird liefern“, sagte Philipp Rösler damals. Die Partei hat nie geliefert. Auch nicht mit Rösler.

Mit 45 Jahren werde Schluss sein in der Politik, das hatte Rösler damals auch gesagt. Auch das machte ihn menschlich, bürgernah. Auch das machte ihn zu einem Gegenentwurf des Parteikarrieristen Westerwelle. Nun ist Schluss für Rösler in der Politik. Er ist gerade 40 Jahre alt.

Als Rösler 2011 Parteichef wurde, war Christian Lindner gerade 32 Jahre alt. Auch Lindner musste damals einstecken, trat in der Krise der Partei als Generalsekretär nach sieben Monaten an Röslers Seite zurück. Er ging nach Nordrhein-Westfalen und wurde dort Parteichef und Fraktionsvorsitzender, wo seine politische Laufbahn 13 Jahre zuvor begonnen hatte. Schon damals hatten viele in Berlin gesagt: Der kommt wieder. Dass es so schnell gehen würde, dachten eher wenige.

Der Ton in der Parteispitze ist nach der Niederlage radikal. „Was von der FDP blieb, sind vollmundige Ankündigungen, die dann nicht eingehalten und durchgesetzt wurden“, sagt der schleswig-holsteinische FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki dem Abendblatt. Hamburgs FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding sagt: „Wir dürfen jetzt keinen Stein auf dem anderen lassen. Und das wird zu inhaltlichen und personellen Konsequenzen führen.“ Sie habe Lindner ihre Unterstützung zugesagt – „nicht nur als ehemaliges Bundesvorstandsmitglied, sondern auch als Vorsitzende einer der verbliebenen acht Landtagsfraktionen in Deutschland“, sagt Suding dem Abendblatt. „Diesen Fraktionen kommt jetzt natürlich eine besondere Bedeutung zu.“ Doch kann sich die Partei mit Christian Lindner an der Spitze erneuern? Gibt es einen Weg zurück zur ernst zu nehmenden liberalen Kraft?

Nur noch in neun von 16 Landtagen

Ohne Mandate im Bundestag hat es die FDP jetzt erheblich schwerer, sich Gehör zu schaffen. Auf Landesebene ist die FDP noch in neun von 16 Landtagen vertreten – und auch das nur mit Glück: In Hessen zog sie am Sonntag erst nach einer stundenlangen Zitterpartie mit genau 5,0 Prozent äußerst knapp ins Parlament ein. In der Regierung sitzt sie nur noch in Sachsen, gemeinsam mit der CDU. Kaum ein Reporter wird zukünftig auf die FDP zukommen, weil sie für die Politik in diesem Land nicht mehr relevant ist. Kaum ein Regierungspolitiker muss sich an der Politik der FDP noch reiben. Weil die Partei aus vielen Parlamenten gedrängt wurde. Es gibt keinen Marschall-Plan für die FDP. Sie muss sich selbst wieder hochziehen.

Christian Lindner hat die FDP schon einmal wieder hochgezogen. In Nordrhein-Westfalen lag sie 2011 genauso am Boden wie im Bund. Er kam an die Spitze im Landesverband. Bei den Wahlen holte er 2012 mit den Liberalen sensationelle 8,2 Prozent der Stimmen. Geht das noch mal?

Christian Lindner hat eine Annahme: Es wird in Deutschland eine liberale Partei dringend gebraucht. Eine Partei, die Vertrauen in das Individuum hat, und dem Staat skeptisch gegenübersteht. Eine Partei, die Freiheit vor Sicherheit stellt. Das sind sie, die großen liberalen Haltungen. Abseits von Parolen über niedrige Steuern und einen freien Markt. Unter der FDP von Westerwelle, unter der FDP von Rösler ist das ziemlich in Vergessenheit geraten. Lindner habe Kompetenzen weit über marktliberale Politik und Steuerpolitik hinaus, sagt Kubicki. „Er kann die liberalen Inhalte der Partei gut verkaufen. Er kann auch das Soziale des Liberalismus wieder stärker in den Vordergrund stellen.“

Lindner kann das gut, nach außen die liberale Leitfigur darstellen. Auf Parteitagen, in Interviews mit Journalisten, in Talkshows. „Die liberale FDP muss sich den Respekt zurückholen“, sagte Lindner schon am Montag. Mit welchen neuen Inhalten und Schwerpunkten er das erreichen will, lässt er noch offen. Darüber sollen Gremien, Parteitage und auch die etwa 60.000 Mitglieder der FDP mitbestimmen.

Was Linder verschwieg: Schon vor seinem Rücktritt als Generalsekretär tingelte er durch das Land und ließ über liberale Politik diskutieren. Auch in Hamburg, in einem flachen Saal in der Speicherstadt. Ein Bürgerprogramm sollte es werden, moderiert von den Spitzen der Partei. Das Ende ist bekannt. Und doch scheint Lindner für die Liberalen in dem Moment der schwersten Parteikrise die einzige Option. Die beste, sagt Kubicki.

Auch, weil er sich selbst schon an der Seite von Lindner in einer neuen Parteiführung sieht. Und er passt neben dem verspielt-intellektuellen und höflichen Lindner gut in ein Duo. Kubicki, der liberale Plattmacher. Ein Rechtsanwalt, der sich schon mal die Freiheit nimmt, die Stimmung in der FDP mit der „Endphase der DDR“ zu vergleichen. Er könnte Generalsekretär neben Lindner werden, zuständig für die unbequemen Wortgefechte mit den großen Parteien und zuständig für die Disziplinierung der FDP nach innen.

Lindner spielt dann die Rolle des liberalen Erklärers, der nicht nur Anwälten und Ärzten sagt, warum es in Deutschland eine liberale Kraft unbedingt braucht. Sondern auch dem Facharbeiter und Mittelständler. So stellen sie sich das vor in der FDP-Parteizentrale in Berlin. So könnte es klappen. Vielleicht. Sicher ist im Moment nur das Desaster.

Hamburgs Spitzenpolitiker zur Wahl/aktuell