Die FDP verpasst erstmals in ihrer Geschichte den Einzug in den Bundestag. Spitzenkandidat Rainer Brüderle übernimmt Verantwortung und deutet wie auch Parteichef Philipp Rösler ein Rücktritts-Angebot an.

Berlin/Hamburg/Kiel. Die FDP ist auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte angekommen. Die ersten Hochrechnungen zur Bundestagswahl sehen die Liberalen erstmals seit 1949 nicht im Bundestag. Falls nicht noch ein Wunder geschieht, bleibt die Partei unter der Fünf-Prozent-Marke.

Die Parteispitze ist längst alarmiert, Spitzenkandidat Rainer Brüderle nahm das Ergebnis bereits auf sich. „Als Spitzenkandidat übernehme ich dafür Verantwortung. Das ist nicht das Ende der Partei, aber die Arbeit wird schwieriger“, sagte Brüderle, der wie auch Parteichef Philipp Rösler noch am Wahlabend andeutete, seinen Rücktritt anzubieten.

Ein weiterer Schlag für Brüderle: Bei der Runde der Spitzenkandidaten bei ARD und ZDF war der 68-Jährige nicht dabei. Man habe nur die Parteien geladen, die voraussichtlich die Fünf-Prozent-Hürde überspringen, sagte ZDF-Chefredakteur Peter Frey am Sonntagabend.

Personelle Konsequenzen fordert auch schon Wolfgang Kubicki. „Auch wenn das amtliche Endergebnis noch nicht feststeht: Ein ’Weiter so‘ kann es vor dem Hintergrund dieser Zahlen auf Bundesebene nicht geben“, sagte der Kieler FDP-Fraktionschef.

Er fügte hinzu: „Entweder sind wir thematisch falsch aufgestellt oder wir haben das falsche Personal. Ich fürchte, beides trifft zu.“ Darüber müsse die Partei beraten.

Auch die Wahlkampfstrategie seiner Partei kritisierte Kubicki. „Ich finde das eine beachtliche Leistung, dass man mit fünf Ministern der größten Bundestagsfraktion aller Zeiten innerhalb von vier Jahren die FDP von 14,6 auf 5 Prozent oder darunter bringt“, sagte Kubicki nach der ersten Hochrechnung.

„Eine ordentliche Wahlkampfstrategie mit einem souveränen Auftreten sieht anders aus.“ Kubicki hatte auf Platz 1 der schleswig-holsteinischen Landesliste für den Bundestag kandidiert.

„Die bitterste Stunde seit 1949“

Der frühere FDP-Spitzenpolitiker Wolfgang Gerhardt blies ins gleiche Horn: „Wir konnten nie wirklich deutlich machen, für was wir stehen.“

NRW-Parteichef und FDP-Hoffnungsträger Christian Lindner sagte: „Mit Sicherheit ist das die bitterste Stunde der FDP seit 1949. Ganz offensichtlich haben wird die Erwartungen der Wählerinnen und Wähler enttäuscht. Ab morgen muss die FDP neu gedacht werden.“

Gesundheitsminister Daniel Bahr zeigte sich geschockt: „Offensichtlich sind alle Erfolge der Koalition bei der Union gelandet.“ Die Zweitstimmenkampagne sieht Bahr nicht als Grund für das schlechte Abschneiden der Liberalen. „Wir sollten jetzt alle Verantwortung tragen, nicht nur Philipp Rösler.“ Der Parlamentarische Geschäftsführer Otto Fricke sagte: „Das ist eine herbe Niederlage.“

„Das ist heute auch eine Zäsur für das Land“, sagte der frühere Innenminister Gerhart Baum (FDP) in der ARD-Talkrunde von Günther Jauch über den Abschied der Liberalen aus dem Bundestag.

Ernüchterung bei der Hamburg-FDP

Auch bei Hamburgs Liberalen herrscht Ernüchterung. „Die Zahlen sind niederschmetternd“, sagte die Bürgerschaftsabgeordnete Sylvia Canel. Es sein Signal, dass sich die Partei neu aufstellen müsse.

„Jetzt muss ein Ruck durch die Partei gehen“, sagte die 55-Jährige. Das schlechte Ergebnis dürfe jetzt jedoch nicht an Personen festgemacht werden, sondern an strategischen Fehlern, die die FDP innerhalb der Koalition gemacht habe. „Nach der Analyse können wir auch über Personen reden.“

Hamburgs Spitzenkandidat Burkhardt Müller-Sönksen suchte mit den enttäuschten Anhängern der FDP nach Erklärungen. „An den Inhalten hat es nicht gelegen“, sagt der 54-Jährige, der seit 2005 im Bundestag saß. „Sondern daran, wie wir die Inhalte dargestellt haben.“

Man müsse auch mit Anstand und Würde verlieren können. Es sei ein „bitterer Weg“, jetzt ins Rathaus zu gehen und dort das schlechte Ergebnis zu erklären. „Wir müssen jetzt selbstkritisch gucken, was wir falsch gemacht haben.“ Trotz der historischen Niederlage seiner Partei wolle Müller-Sönksen jetzt vorne schauen: „Das ist keine Ende, das ist ein Anfang.“

Häme beim Gegner bleibt aus

Nicht beteiligen an einer Debatte über personelle Konsequenzen auf Bundesebene möchte sich der niedersächsische FDP-Landesvorsitzende Stefan Birkner. Es sei zu kurz gesprungen, die Analyse über den Misserfolg auf einzelne Personen zu konzentrieren, sagte Birkner am Sonntag im NDR.

„Natürlich stehen ein Spitzenkandidat und ein Bundesvorsitzender in besonderer Verantwortung“, sagte er mit Blick auf Parteichef Rösler und Brüderle. Um die richtigen Konsequenzen zu ziehen, bedürfe es aber keiner klugen Ratschläge aus Niedersachsen.

Angela Merkel bedauerte das schlechte Abschneiden der FDP. „Wir haben zusammen gute Arbeit geleistet“, sagte die Kanzlerin in der „Berliner Runde“. Es sei kein Fehler gewesen, dass die Union auch für die Zweitstimmen geworben habe zu Lasten der FDP.

Auch beim politischen Gegner blieb Häme für die FDP weitestgehend aus. So schrieb Grünen-Bundestagsmitglied Konstantin von Notz stellvertretend für viele Kollegen via Twitter: “Ich finde, Schadenfreude gegenüber der FDP ist nicht angezeigt!“

Bissige Reaktionen kamen dafür von anderer Stelle. „Es ist eine schwere Stunde für uns als Satiresendung: Wenn die FDP wirklich rausfliegt, müssen wir bei extra3 wohl Leute entlassen“, teilte die NDR-Sendung bei Twitter mit.

Das Ende einer Ära

Das Schicksal der FDP, als Regierungspartei aus dem Bundestag zu fliegen, ereilte bisher nur die damalige Kriegsgeschädigten- und Vertriebenenpartei Gesamtdeutscher Block/BHE (GB/BHE) 1957 in der jungen Bundesrepublik.

Noch bei der Bundestagswahl 2009 hatte die FDP mit 14,9 Prozent ihr bestes Ergebnis aller Zeiten erreicht – nun ist es nach den Hochrechnungen mit 4,5 bis 4,7 Prozent ihr schlechtestes.

Seit 1949 saß die FDP ununterbrochen im Parlament. Mehr als vier Jahrzehnte war sie an Bundesregierungen beteiligt und bei Kanzlerwechseln mehrfach das Zünglein an der Waage.

Den in früheren Jahren größten Stimmenverlust mussten die Liberalen 1994 hinnehmen. Damals rutschten sie von 11,0 auf 6,9 Prozent – ein Verlust von 4,1 Punkten. Nach ihrer „Wende“ von der SPD zur Union war die Partei aber schon 1983 auf 7,0 Prozent abgerutscht (minus 3,7).

Schon 1969 hatte der FDP fast das Totenglöcklein geläutet. Mit ihrem schlechten Ergebnis von 5,8 Prozent (minus 3,7) überwand sie nur knapp die Sperrklausel, konnte aber mit der SPD eine sozial-liberale Bundesregierung bilden. Das Bündnis hielt 13 Jahre lang bis 1982.

Mehr als 50 Mal wurde die FDP aus Landtagen gekippt – zuletzt in Bayern und an diesem Sonntag auch in Hessen. Nur in Baden-Württemberg ist sie noch nie gescheitert.