Seit dem NSA-Skandal wächst das Geschäft der Hamburger Firma Protonet mit unabhängigen Mini-Servern. Dabei geht es um mehr als nur Datenschutz. Sogar die „Washington Post“ berichtete über die Hamburger Firma.

Hamburg. Ali Jelveh erinnert sich an die letzten Abende in Teheran. Er ist gerade vier Jahre alt, schaut Zeichentrickfilme im Fernseher, als die Eltern die Vorhänge zuziehen, sobald es draußen dämmert. 1980, ein Jahr nachdem die Mullahs im Iran den Schah stürzen und die Islamische Revolution ausrufen, wird Jelveh geboren. Dann bricht der Krieg zwischen Iran und Irak aus. Nachts fliegt die irakische Luftwaffe Angriffe auf Teheran. Die Eltern hocken vor dem Radio, hören Nachrichten, und der kleine Ali versteht nicht, dass seiner Welt gerade der Boden entzogen wird.

Als Jelveh fünf Jahre alt ist, flieht die Mutter mit ihm und seinem Bruder nach Frankreich, später dann nach Hamburg. Sein Vater bleibt im Iran. Man muss Jelvehs Vergangenheit kennen, um die Geschichte von Protonet zu verstehen. Als Kind habe er gespürt, was es heißt, wenn man das verliert, was einem wichtig ist. „Vielleicht ist diese Erfahrung mein Antrieb geworden“, sagt er heute. Ein Antrieb auch gegen die Großen und Übermächtigen.

Vier Jahre Arbeit stecken in ihrem „einfachsten Server der Welt“

Protonet heißt die Hamburger Firma, die der 33 Jahre alte Jelveh gemeinsam mit dem 28-Jährigen Christopher Blum gegründet hat. Vier Jahre lang haben die beiden an ihrer Vision des „einfachsten Servers der Welt“ gearbeitet, eine Box, über die der Nutzer verschlüsselt im Internet surft, mit einem eigenen sozialen Netzwerk, dass nicht mehr die Server von Facebook nutzt. Und mit unabhängigem Speicherplatz für Dokumente, Bilder, Datenbanken. Wer die Box in seinem Büro stehen hat, braucht nicht mehr die Angebote von Google, Microsoft, Apple und Co. zu kaufen. Arztpraxen oder Anwaltskanzleien wissen, wo ihre Daten über Patienten oder Mandanten gespeichert sind – und dass niemand von außen mitlesen kann. So lässt sich das Geschäftsmodell von Protonet zusammenfassen. Aber in diesen Tagen ist Protonet mehr als nur ein junges IT-Unternehmen mit einer guten Idee. Es ist nun auch ein kleines Kapitel in der Geschichte über die Macht der Geheimdienste, über Ausspähprogramme und NSA-Enthüller Edward Snowden. Sogar die „Washington Post“ berichtete über die Hamburger Firma.

Ali Jelveh steht auf der Bühne, neben ihm der orange Kasten, nicht einmal so groß wie eine Mikrowelle. Wegen dieser Box sind an diesem Abend im Juli rund 100 Unternehmer, Politiker, Techniker, Designer und Freunde in die Große Bergstraße in Altona gekommen. Im ersten Stock liegt das Großraumbüro der Firma. Die weißen Wände sind für heute in oranges Neonlicht getaucht. Ein 3-D-Drucker in der Ecke druckt kleine Batman-Plastikfiguren aus. Protonet stellt sich vor. Ali Jelveh ist ihr „Chief Revolutionary Officer“, ihren Mini-Server haben sie „Soul“ genannt. Seele. Knapp zwei Stunden erzählen sie von ihrer Idee, dem Produkt, dem Verzinker, der in Bergedorf sitzt, oder der Pulverbeschichtung, die in Eimsbüttel gefertigt wird. Sie sprechen von Datenschutz und sozialen Netzwerken. Als es draußen schon dunkel wird, werfen sie die ARD per Beamer an die Wand. In den „Tagesthemen“ erzählt Moderatorin Caren Miosga, dass Kanzlerin Merkel mit US-Präsident Obama zum NSA-Abhörskandal telefonierte. Dann zeigt die Sendung einen Beitrag über Protonet, sie interviewen Jelveh und Blum. „Einerseits ist der NSA-Abhörskandal schlecht für Deutschland und für uns Bürger. Andererseits ist es gut für Protonet und unser Geschäft“, sagt Jelveh. „Das Telefon klingelt oft seitdem“, ergänzt Blum in dem Beitrag.

In den Minuten nach den „Tagesthemen“ bricht der Server von Protonet zusammen, ausgerechnet bei einem Server-Hersteller. In den Tagen danach stehen 100 Anfragen für „Soul“ auf der Warteliste. Derzeit sind zwölf Menschen bei Protonet beschäftigt, bald sollen es 20 sein. „Soul“ helfe kleinen und mittelständischen Firmen, ohne eigene IT-Abteilung unabhängig von Telekommunikationsunternehmen zu sein. „Nur wenn Geheimdienste die Datenleitungen direkt im Atlantik anzapfen, sind auch wir machtlos“, sagt Jelveh.

Machtlosigkeit. Ein Wort, das man oft liest in diesen Wochen. Machtlose Politiker, machtlose Verbraucher. Jeder trägt das mulmige Bauchgefühl mit sich durch die digitale Welt: Wo sind meine Daten gespeichert? Wer spioniert sie aus? Und wie gefährlich ist das für mich? Der Datenskandal um NSA und GCHQ – er hat viele nicht einmal überrascht. Und doch wissen wir nicht, wohin er führt. Und wie wir aus dem Unwohlsein wieder rauskommen.

Dem Datenskandal stellt Protonet eine kleine Box entgegen. Man könnte die Geschichte an dieser Stelle beenden: Hier die bösen Datenschnüffler der Geheimdienste, da zwei junge Typen aus Hamburg, die sich aufbäumen gegen den großen Lauschangriff. Und damit Geld verdienen. Aber das ist nur die Oberfläche. Eigentlich geht es um viel mehr: die Verkleinerung der Welt.

Viele Jahrzehnte war die Ordnung der Gesellschaft von den Großen vorgegeben: Der Strom kam aus großen Kraftwerken, das Abwasser floss in große Kläranlagen, die Lebensmittel lieferten große Betriebe. Und die Daten kontrollierten Microsoft, Google, Apple und Co. Noch immer sind „die Großen“ mächtig. Aber es bahnt sich eine Veränderung an: vom Großen zum Kleinen, vom Zentralen zum Dezentralen. Das ist der Zeitgeist. Man könnte auch sagen: Der Mensch soll sich wieder selbst versorgen, vom Strom bis zum Internet. So jedenfalls ist die Idee von Menschen wie Jelveh. „Wir Bürger sollten unsere Unabhängigkeit wertschätzen und zurückerobern.“ Dafür brauche der Verbraucher eigene Technik und ein Verständnis dafür. „Soul“ sei auch ein politisches Produkt, sagt Jelveh. Es könnte ein Ausweg aus dem Unbehagen sein. Protonet arbeitet daran nicht allein.

Beim Strom, beim Heizen, bei der Nahrung, beim Abwasser – an vielen zentralen Punkten unseres Lebens setzt dezentrale Infrastruktur an. Eigentümer können ihre Häuser mit Zuhause-Kraftwerken selbst versorgen. Unter dem sperrigen Begriff der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) hat sich die sogenannte Tandem-Technik in Industrie und Großstädten etabliert – immer dort, wo man die bei der Stromerzeugung anfallende Wärme nutzen kann, zum Heizen. Nun erforschen Unternehmen beispielsweise Kraftwerke mit Solaranlagen auf dem Balkon, das Balkon-Kraftwerk für die Großstadt. Man betritt Neuland, was auch bedeutet, dass die Geräte noch teuer sind. Und wenig erprobt. Doch die Richtung ist klar: klein statt groß, lokal statt global. Auch die großen Energieunternehmen investieren längst in dezentrale Kraftwerke.

Der Selbstversorger-Zeitgeist kommt mit Wucht und führt zu neuen Ideen

Es könnte der gleiche Balkon sein, auf dem die Anwohner ihre Tomaten und Gewürze züchten. Das sogenannte Urban Farming setzt sich in Städten seit einigen Jahren als Graswurzelbewegung durch. Auch hier ist das Ziel: selbst anbauen, selbst essen. Im Internet gibt es Anleitung für Zisternen und Hochbeete. In einem Schiffscontainer züchten Berliner Enthusiasten Fische. In Frankfurt pflanzen Anwohner Radieschen auf Verkehrsinseln. Ihre Gärten sehen sie als Symbole gegen die Massenproduktionen der Industrie. Sie sind auch der sichere Weg zu wissen, woher das eigene Essen kommt, was drin ist und mit welchem Dünger gezüchtet wird. Sicherheit und Transparenz, auch das versprechen sich die Selbstversorger von ihrer urbanen Infrastruktur. Das Abwasser einiger Haushalte in Deutschland fließt seit einigen Jahren bereits durch Kleinkläranlagen – ohne Anschluss an die Kanalisation.

Die Wucht des Selbstversorger-Zeitgeists spürten Jelveh und Blum am Anfang von Protonet. Auf der Crowdfunding-Plattform „Seedmatch“ können Unternehmer Ideen vorstellen und Geld von Nutzern über das Internet sammeln, um diese Ideen umzusetzen. Die Arbeitswelt ist zu einem Nebeneinander von Fachleuten geworden, alle mit speziellem Wissen. Der Experte verkauft und nutzt seine Expertise, den Rest des Puzzles stecken andere Experten zusammen. Das große Ganze – zwischen Strom, Internet und Nahrung – verstehen nur wenige. Viele, die nun das Große aufbrechen, werden bejubelt. Und unterstützt. In 48 Minuten hatte Protonet 200.000 Euro auf „Seedmatch“ für ihren Server zusammen.

Derzeit wirbt eine andere Firma auf „Seedmatch“ um Geld, sie will Wärme von Computer-Servern in Wohnungen oder Betrieben zum Heizen und für warmes Wasser nutzen. Je enger das Netz, je kürzer die Leitungen, desto höher die Effizienz der Energie. Und die Stabilität. „In der Natur bauen Bienen Waben, das sind kleine, aber enorm stabile Strukturen. Das ist auch unser Ziel: ein Netz kleiner Einheiten, stabil und sicher“, sagt Jelveh. Wer am Ende des Großraumbüros durch die Tür geht, sieht ein Beet auf dem Dach. Die Daten-Experten von Protonet züchten dort ihre eigenen Tomaten und Zucchini.