US-Präsident Barack Obama hatte eigentlich mehr Informationen versprochen. Nun erfährt die Kanzlerin, dass sie letztlich nichts erfahren hat.

Berlin. Wanzen in diplomatischen Einrichtungen, überwachte Telefonate von Politikern und registrierte E-Mails von Millionen von Bürgern – das hört sich nach Kaltem Krieg an. Es ist allem Anschein nach aber gängige Praxis der USA im Umgang mit Deutschland und Europa. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat US-Präsident Barack Obama deshalb ihr „Befremden“ über die US-Ausspäherei übermittelt. Übersetzt heißt das: Sie ist stocksauer.

Nicht nur weil sie aus DDR-Zeiten selbst sehr gut weiß, was Überwachung in einem solchen Ausmaß anrichtet. Denn neben dem selbstverständlich wünschenswerten und Leben rettenden Aufspüren von Terroristen – wie Obama argumentiert – wird mit einem solch starken Eingriff in Freiheitsrechte und Privatsphäre von Politikern, Diplomaten und völlig unbescholtenen Bürgern Vertrauen zerstört.

Erst vor knapp zwei Wochen hatte Obama bei seinem Berlin-Besuch Merkel mehr Transparenz versprochen. Die US-Geheimdienste würden sich künftig eng mit ihren deutschen Partnern abstimmen. Nun erfährt die Kanzlerin offensichtlich aus den Medien, dass diplomatische Vertretungen der Europäischen Union und einzelner EU-Länder ausgespäht wurden. Damit steht Merkel ziemlich vorgeführt da.

Obama muss derweil erklären, was der Anti-Terror-Kampf mit EU-Institutionen zu tun hat. „Dass offenbar auch EU-Institutionen abgehört werden, ist ein Alarmsignal“, sagt der Vorsitzende der CSU-Mittelstands-Union, Hans Michelbach. Denn dem US-Geheimdienst NSA könne es dabei kaum um Terrorabwehr gehen. „Die EU ist kein Unterstützer von Terroristen, wohl aber ein starker Konkurrent auf dem Weltmarkt“, sagte Michelbach. Er warnt vor einer Belastung der gerade erst vereinbarten Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU. „Die USA müssen sich entscheiden, ob sie Europa als transatlantischen Partner wollen oder ob sie Europa ausspionieren wollen. Beides zusammen geht nicht.“

Auswärtiges Amt lädt US-Botschafter Philip Murphy in Berlin zum Gespräch

Regierungssprecher Steffen Seibert sagt, dieses Abkommen sei von großer Bedeutung. Aber: „Um ein Abkommen auszuhandeln, braucht man beiderseitiges Vertrauen (…), und Vertrauen muss in dieser Angelegenheit wiederhergestellt werden.“ Gegebenenfalls müsse es „eine einstimmige und auch eine sehr deutliche europäische Reaktion“ geben. Denn: „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg.“ Notwendig seien nun die vollständige Aufklärung des Sachverhalts, der Austausch über Rechtsgrundlagen und ein neues Gespräch zwischen Merkel und Obama, sagte Seibert. Auf die Frage, ob die Bundesregierung Snowden nicht dankbar sein müsste, sagt der Regierungssprecher: „Ich kann solche Gefühle für die Bundesregierung hier nicht ausdrücken.“ Das Auswärtige Amt lud nach Angaben eines Sprechers den US-Botschafter Philip Murphy in Berlin ein, um über das Thema zu sprechen. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sieht einen „enormen Vertrauensverlust“ und fordert Merkel auf, zur Aufklärung der Spähangriffe Regierungskonsultationen mit den USA und Großbritannien einzuleiten. Die Linkspartei will eine Sondersitzung des Bundestags zu den Spähprogrammen.

Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, fordert in der „Frankfurter Rundschau“, die Spionageabwehr der deutschen Geheimdienste zu überprüfen. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sprach sich derweil in der ARD dafür aus, den flüchtigen IT-Spezialisten Edward Snowden, der Teile der Ausspähprogramme bekannt gemacht hatte, und deswegen von den USA per Haftbefehl gesucht wird, in Europa aufzunehmen. Die Piratenfraktion in Nordrhein-Westfalen schlägt Snowden wegen seines Einsatzes für die „weltweite Aufklärung“ gar für den Bundesverdienstorden vor.