Er betete dafür, dass der Kelch an ihm vorübergehe. Im Amt blieb sich Joseph Ratzinger treu und verblüffte doch Gläubige wie Kritiker.

Berlin/Rom. Der Rücktrittswunsch kommt nicht überraschend. Mit 75 Jahren müssen ja alle Bischöfe ihre Demission anbieten, so will es das Kirchenrecht, und natürlich hält sich auch der prinzipientreue Joseph Ratzinger daran. Am 16. April 2002 schickt er dem damaligen Papst Johannes Paul II. einen Brief und bittet um seine Pensionierung "aus gesundheitlichen Gründen". Sein Gesuch wird abgelehnt, natürlich. Der Heilige Vater denkt nicht daran, seinen Vertrauten in Rom zu verlieren, er will Ratzinger weiter als Chef der Glaubenskongregation sehen.

Fast auf den Tag genau drei Jahre später, am 19. April 2005, wählt das Konklave Ratzinger zum neuen Papst. Eine historisch ungewöhnliche Situation. Weniger, weil er erst der achte Deutsche auf dem Stuhl Petri ist. Sondern weil er ein Papst ist, der diesen Thron gar nicht wollte. Der nach eigener Aussage regelrecht dafür betete, dass der Kelch an ihm vorübergehe. Der hoffte, dass die Bürde seines Dienstes mit dem Tod Johannes Pauls II. von ihm genommen wäre und er sich endlich ins Private würde zurückziehen können. Wer das bisher für eine geheuchelte Bescheidenheitsgeste gehalten hat, dürfte nun, nach dem tatsächlichen Rücktritt, anders darüber denken. Viel spricht dafür, dass es dieses Pontifikat nie hätte geben dürfen, wenn es nach dem Pontifex selbst gegangen wäre.

So spektakulär und überraschend die Amtszeit Benedikts XVI. zu Ende geht, so spektakulär begann sie. Ratzinger war ja beim Konklave der einzige "Papabile" (aussichtsreiche Kandidat) gewesen, dessen Namen deutsche Zeitungsleser schon gehört hatten. Liberalen Christen galt er als die personifizierte dunkle Seite Roms: ein verkopfter Hardliner, ein Doktor Dogma, der schon lang nicht mehr in einer Provinzgemeinde war und mit der Basis konfrontiert wurde. Der mit Schriften wie "Dominus Iesus" über die Vormachtstellung der katholischen Kirche die anderen Konfessionen vor den Kopf stößt. Hammer Gottes und Panzerkardinal.

Dann kommen die ersten Bilder. Benedikt auf dem Balkon des Petersdoms, eben erst gewählt, mit einem entrückten Lausbubengrinsen. Dann kommen die ersten Pflichttermine, und die Schaulustigen rufen diesem Bücherwurm Sprechchöre nach wie Justin Bieber oder Lionel Messi. Da manche Ratzinger selbst die Wiedereinführung der Hexenverbrennung zutrauen würden, sind Beobachter umso erstaunter, wie moderat und dialogbereit er wirkt. Sein Wappen ziert nicht mehr die päpstliche Krone, die Tiara, er verzichtet auf den Handkuss als obligatorische Begrüßung, er trifft sich mit Hans Küng. Plötzlich graben Gelehrte alte Schriften und Positionspapiere des jungen Ratzinger aus, der schon auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein Softie und Liberaler gewesen sei. Aus dem Panzerkardinal wird die Popfigur Papa Ratzi.

Seine konfessionsübergreifend gelobte erste Enzyklika heißt "Deus caritas est", Gott ist die Liebe. Darin hebt er den Wert erotischer Bedürfnisse auch für Katholiken hervor. Wie sehr die Deutschen von Ratzinger überrascht waren, zeigte der Weltjugendtag in Köln, der nur ein paar Wochen nach dem Konklave stattfand. Eine Art vorgezogenes Sommermärchen, mit tagelangen "Benedetto"-Rufen und einer Abschlussmesse mit mehr als einer Million Gläubigen. Das Ganze war ein solcher Erfolg, dass danach erst einmal ein paar Wochen in den Feuilletons und in Talkshows darüber debattiert wurde, ob so viel gute Laune in der katholischen Kirche überhaupt schicklich ist. Ob Glaube zum Event verkomme.

Er wird geahnt haben, dass es nicht immer so weitergeht. Denn Ratzinger, das wurde den Katholiken erst allmählich klar, hatte sich in Wirklichkeit kaum verändert. Wie könnte er auch? Sein Glaube fußte ja auf jahrzehntelanger Forschung. So etwas wirft man nicht über Bord, wenn man plötzlich Papst wird. Wie man Ratzinger früher Unrecht tat, ihn zu einseitig als Erzreaktionär darzustellen, so irrte man sich nun auch in ihm, wenn man in ihm einen friedensbewegten Kirchentagshauptredner sehen wollte.

Dann legte sich die Begeisterung der Massen. Die Leute merkten, dass unter Benedikt in den umstrittenen Punkten des Katholizismus - Verhütung, Homosexualität, Zölibat - alles beim Alten blieb. In manchem regierte er konservativer als sein Vorgänger, zum Beispiel bei seiner Wiedereinführung des alten lateinischen Messritus. Dazu unterliefen ihm seltsame diplomatische Patzer: die verunglückte Rede vor der Uni Regensburg 2006, in der er mit einem mohammedkritischen Zitat die Muslime brüskierte. Oder die Wiederannäherung an die traditionalistischen Piusbrüder um Holocaust-Leugner Richard Williamson.

Der Grund, dass er selbst mit seinem Amt zu hadern hatte, waren die Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche, die zunächst in den USA und Irland bekannt wurden, und dann 2010, ausgehend vom Berliner Canisius-Kolleg, auch in Deutschland. Aus dem Umfeld des Papstes hieß es stets, er sei von diesen Abgründen tief erschüttert gewesen. Es gibt keinen Grund, das zu bezweifeln.

Aber es gelang Benedikt eben auch nicht, den Menschen das Vertrauen in die Kirche zurückzugeben. Dass ausgerechnet sein früheres Erzbistum München-Freising sich zuletzt weigerte, frühere Personalakten aus Ratzingers Zeit als Erzbischof für unabhängige Untersuchungen offenzulegen, hat die Situation nicht verbessert.

Benedikt XVI. kann nichts für den Missbrauchsskandal. Aber der fällt in seine Amtszeit. Als Benedikt 2012 zum letzten Mal als Papst in Deutschland war, gab es keine "Benedetto"-Rufe mehr, dafür aber Anti-Papst-Demonstrationen. Es wurde gar infrage gestellt, ob er vor dem Bundestag reden dürfe. Die Krise der Kirche, sie ist auch Ratzingers Krise. Sie wird immer mit seinem Namen verbunden bleiben. Manchmal ist Geschichte nicht fair.

Zuletzt konnte der Papst einem leidtun, und das ist eigentlich nicht mit dem Anspruch dieses Amtes vereinbar. Er wirkte schon länger nicht mehr wie ein Gestalter, eher wie ein Getriebener. Bei öffentlichen Auftritten, mittwochs bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz und sonntags beim Angelusgebet, konnte man ihm die Strapazen seines Jobs, seiner Auslandsreisen, seines Kampfes gegen die Missstände in der Kirche immer deutlicher ansehen. Sein Gang wurde unsicherer, die Stimme schwächer. Im Oktober 2011 ließ er sich erstmals auf einem rollenden Podest durch den Petersdom schieben, statt selbst zu gehen. Bei der "Vatileaks"-Affäre um seinen Kammerdiener Paolo Gabriele schließlich stand er als isolierter Machthaber da, der seinen Laden mehr nicht im Griff hat.

So wird das Pontifikat Benedikts XVI. als ein glückloses in die Geschichte eingehen. Ein Intellektueller auf dem Stuhl Petri, der gelehrter war als die meisten seiner Vorgänger, der in seinen besten Momenten zu berühren verstand und die Welt mit seiner Liebe und Wärme überrascht hat. Und der am Ende feststellen muss, dass die Kirche zumindest in den Industrieländern weniger Einfluss und Ansehen hat als bei seinem Amtsantritt.

Sein Vermächtnis hat er den Gläubigen bereits überreicht: seine drei Jesus-Bücher. Weltweit millionenfach verkauft, werden sie noch lange an den Glaubenden und Suchenden Ratzinger erinnern. Er wisse nicht, "wie lange mir noch Zeit und Kraft geschenkt sein werden", schrieb Ratzinger 2006 im Vorwort des ersten Bandes. Im Winter 2012 erschien der letzte Band. Es ist, als habe ihm eine gute Macht wenigstens diesen Erfolg gegönnt.