Der designierte SPD-Kanzlerkandidat verlebte Kindheit und Jugend in Hamburg, hatte es in der Schule nicht leicht. Eine Spurensuche.

Die Klassenreise führte an den Bodensee. Man fuhr mit dem Bus durchs Wirtschaftswunderland des Jahres 1967, und viele von Peer Steinbrücks Klassenkameraden aus der 12. Klasse der Staatlichen Handelsschule am Lämmermarkt (Hohenfelde) können sich noch gut an diese Fahrt erinnern. Oder, um genau zu sein: An den Auftritt ihres heute so bekannten Mitschülers, der als Spitzenkandidat der SPD für 2013 einen Regierungswechsel anstrebt.

Um die Stunden auf der Autobahn sinnvoll zu nutzen, hatten die Lehrer Referate verteilt. Das Thema lautete "Printmedien", und Peer Steinbrück hatte sich die "Bild"-Zeitung vorgenommen. "Es war ein bissiger Vortrag, voller Ironie und sehr lustig vorgetragen", erinnert sich eine seiner Klassenkameradinnen, "im Bus wurde viel gelacht, und es war wahrscheinlich das erste Mal, dass uns Peer innerhalb des Klassenverbandes richtig auffiel."

Seiner Klassenkameradin Ilka Wörbel dagegen ist bis heute vor allem eine politische Diskussion im Gedächtnis geblieben, die von der Geschichts- und Englischlehrerin Christel Braun im selben Jahr initiiert wurde, kurz nachdem der SPD-Außenminister Willy Brandt erste Schritte zu einer neuen Ostpolitik eingeleitet hatte. Dieser "Wandel durch Annäherung" war in der Großen Koalition und auch in der Gesellschaft höchst umstritten. Braun hatte den Hamburger CDU-Bundestagsabgeordneten Gerhard Orgaß als Gast gewinnen können, einen durch viele Redeschlachten gestählten Politiker. Doch an diesem Vormittag traf er auf einen jungen Mann, der ihm Paroli bot: "Da hat Peer heiß diskutiert, da kam er ganz groß heraus", wird Ilka Wörbel in der kompakten und sehr lesenswerten Peer Steinbrück-Biografie des "Welt"-Journalisten Daniel Friedrich Sturm zitiert (dtv, München, 14,90 Euro), "was der alles wusste! An diesem Tag hat er mich sehr beeindruckt."

Der Klassenälteste, Hans-Erich Johannsmann, sagt, dass Steinbrück gegenüber Lehrern stets sehr selbstbewusst seine Position vertreten habe, etwa, wenn eine Zensur in seinen Augen ungerecht ausgefallen sei. "Außerdem hatte er oft einen Spruch drauf!" Andere Mitschüler empfinden Steinbrücks Redegewandtheit laut Sturm manchmal jedoch als "arrogant", bisweilen sogar als "elitär" und "überheblich".

Wie auch immer. Fest steht, dass Peer Steinbrück alles andere als harmoniesüchtig ist, sondern Tacheles redet - manchmal rücksichtslos, bis an die Schmerzgrenze. Bis heute. Seine ehemalige Lehrerin Christel Braun, die heute in einem Othmarschener Seniorenstift lebt, lacht. "O ja", meint sie, "gut reden konnte er schon immer, obwohl er schulisch gesehen sicherlich ein Spätentwickler war."

Sie ist wohl eine der drei Frauen, die auf dem Lebensweg des heranwachsenden Peer Steinbrück die notwendigen Weichen gestellt haben (die beiden anderen waren seine Mutter und seine Großmutter). Steinbrück selbst hält bis heute große Stücke auf sie: "Ich hatte eine sehr emanzipierte Geschichts- und Englischlehrerin, die mich positiv geprägt hat", sagt er. Denn Christel Braun versucht konsequent, eine für die damalige Zeit revolutionäre Forderung in die Praxis umzusetzen: "Bildung für alle". "Zum damaligen Zeitpunkt machten ja gerade mal 15 Prozent der Schüler Abitur", sagt Christel Braun, die von ihren ehemaligen Schülern als engagiert und streng aber auch freundlich beschrieben wird. Sie stand politisch der SPD und vor allem Willy Brandt nahe - was als geistige Brücke zu Peer Steinbrücks Mutter Ilse angesehen werden kann. Denn Ilse Steinbrück vertritt im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen die Meinung, dass die aufrichtige Aufarbeitung der Nazidiktatur wichtiger sei, als die braune deutsche Vergangenheit ruhen zu lassen und stur nach vorne zu schauen.

Als Steinbrück 1966 die Staatliche Handelsschule betritt, weiß er, dass es seine letzte Chance auf einen Abschluss ist, der ihm ein Studium ermöglichen würde. Denn bis zu diesem Zeitpunkt ist seine Schulzeit alles andere als erfolgreich verlaufen; ein Schicksal dass er mit einigen anderen Menschen teilt, die trotz lausiger Schulnoten und "Ehrenrunden" später die Welt verändern und bereichern sollten, manchmal auch nur ein Bundesland: Winston Churchill, Albert Einstein, Thomas Mann, Joschka Fischer sowie Christian Wulff und Edmund Stoiber, die beide jeweils einmal sitzen blieben.

Steinbrück, der im Katastrophenwinter 1947, am 10. Januar, geboren wurde, hatte eine behütete, gutbürgerliche Kindheit in Hamburg-Uhlenhorst verlebt. Der Schrötteringksweg und seine Nebenstraßen waren wie durch ein Wunder von den Bombenteppichen weitgehend verschont geblieben. Natürlich spielen die Kinder nach der Schule aber am liebsten in den Trümmern, die nur wenige Hundert Meter entfernt liegen. Dort gründen sie Banden, verhauen sich auch regelmäßig, wobei Peer Steinbrück keineswegs die Anführerrolle übernimmt.

Aus dieser Zeit gibt es nicht viel Nennenswertes zu berichten, außer dass er von seiner Großmutter mit sechs Jahren in die Kunst des Schachspiels eingeführt wird. Sie lässt ihn jedoch nie absichtlich gewinnen, fördert seinen Ehrgeiz und sein Selbstbewusstsein - und legt auch sicherlich den Grundstein für sein bis heute gefürchtetes strategisches Denkvermögen. Klarheit und Konsequenz statt fauler Kompromisse; auch das dürfte seine Großmutter im Sinn gehabt haben.

Sein Vater Ernst, ein Architekt, ist weitläufig mit der Berliner Familie Delbrück verwandt (Adalbert Delbrück war 1870 Mitbegründer der Deutschen Bank). Seine Mutter Ilse entstammt einer Hamburger Kaufmannsfamilie mit dänischen Wurzeln, die Mitte der 1930er-Jahre teilweise in Dänemark und Schweden bei Verwandten lebte, bevor sie 1939 ins "Reich" zurückkehren muss. "In diese Diktatur", wie sie in ihren kleinen Kalender notiert.

Während sein Vater nach dem Krieg der CDU nahe steht, sorgen Mutter und Großmutter dafür, dass der junge Peer möglichst nicht nur viel liberalen Geist einatmet, sondern dass er auch erfährt, was in den Jahren zwischen 1933 bis 1945 geschehen war.

Einige Protagonisten dieser Zeit lernt er kennen, als er mit zehn Jahren aus der Volksschule Humboldtstraße aufs Johanneum wechselt, die "Gelehrtenschule", Hamburgs ältestes und wohl auch strengstes Gymnasium. Das Motto lautet "Zukunft braucht Herkunft", noch ist es eine reine Jungenschule. Der Umgangston ist scharf, autoritär und nicht selten geradezu sadistisch. Mit moderner, aufklärerischer Pädagogik und Gerechtigkeit hat dies alles nichts zu tun. Es beginnt das dunkle Kapitel seiner Jugend, über das Peer Steinbrück bis heute kaum ein Wort verlieren mag: Durch die Unterstufe hangelt er sich zwar gerade noch so durch, doch "ich habe eine katastrophale Schulgeschichte in der Mittelstufe gehabt, aber die lassen wir hier mal weg", sagt er einmal bei "Beckmann".

Es ist anzunehmen, dass Peer Steinbrück irgendwann einfach "zugemacht" hat, um dafür in die Rolle eines "Klassenkaspers" zu schlüpfen, was jedoch nur seine rhetorischen Fähigkeiten trainiert haben dürfte; seine Schulnoten jedoch nach unten drückte. Die achte Klasse muss er wiederholen, die neunte Klasse packt er auch nicht: Steinbrücks Abgangszeugnis in der neunten Klasse aus dem Jahre 1961, weist in Latein, Griechisch und Mathematik ein Mangelhaft auf. Englisch, Biologie, Handschrift, Kunsterziehung und Leibesübungen, wurden mit Ausreichend bewertet, in Deutsch hat er eine Drei. Insgesamt benötigt Steinbrück für die Mittelstufe fünf Jahre.

Doch dann, auf der Staatlichen Handelsschule, wo er den Anlauf zu einem "Abitur zweiter Klasse" unternimmt, trifft er auf Pädagogen, die in seinen Augen aufgrund ihrer fachlichen und sozialen Kompetenz die notwendige Anerkennung finden: zum einen Christel Braun, zum anderen den Wirtschaftslehrer, Oberstudienrat Winkler, "der die Bandbreite der Wirtschaftstheorien sehr offen darstellte", wie es Steinbrück später erzählte.

So kann er sich auch mit marxistischen Wirtschaftstheorien auseinandersetzen, "in einer Zeit, als sich einige Leute nach der Erwähnung des Namens 'Marx' erstmal die Zähne putzten." 1968 besteht Peer Steinbrück das Abitur im ersten Anlauf. Er zählt leistungsmäßig sogar zum oberen Drittel. "Das Zeugnis berechtigt zum Studium der Wirtschaftswissenschaften an deutschen Hochschulen", steht dort geschrieben. Peer Steinbrück ist 21 Jahre alt, die Welt steht im offen.

Bis heute trifft er sich mit seinen Mitschülern vom Lämmermarkt. "Und wenn er nicht kommen kann, schreibt er mir das immer rechtzeitig, übrigens noch mit der Hand", sagt Ilka Wörbel, die die Klassentreffen organisiert. Beim jüngsten Treffen vor 14 Tagen sei er allerdings verhindert gewesen. "Wir haben gemeinsam beschlossen, nichts mehr zu sagen - jetzt, wo er Kanzlerkandidat ist. Für uns ist er sowieso immer bloß der Peer."