Die einzige Wahl, die Peer Steinbrück bisher bestreiten musste, hat er verloren. Mit 65 Jahren wagt er von der Hinterbank nochmals den großen Sprung.

Berlin. Peer Steinbrück hat sich verändert. Zu rot-grünen Zeiten in Nordrhein-Westfalen rasselte er immer wieder heftig mit Umweltministerin Bärbel Höhn aneinander. Jüngst hat sich Höhn, die heute stellvertretende Fraktionschefin der Grünen im Bundestag ist, mit Steinbrück zur Aussprache getroffen. „Steinbrück ist einer, der pragmatisch ist, der dazulernt und sich neu anpassen kann“, sagt Höhn nun. „Von daher war es sinnvoll, mal dieses Treffen zu machen, zu bewerten, was da in der Vergangenheit war und jetzt nach vorne zu schauen.“ Sie könnte mit dem Kanzlerkandidaten Steinbrück gut leben.

Der nicht ganz pflegeleichte Hanseat versucht seit Monaten, alte Gräben zuzuschütten, um sich so einen Weg in das Kanzleramt zu ebnen. Das gilt besonders für seine eigene Partei. In seinem Buch „Unterm Strich“ (2010), das eigentlich schon eine Bilanz seines politischen Lebens war, bevor er plötzlich zum Kanzlerkandidaten-Kandidat der SPD wurde, empfahl der 65-Jährige der SPD eine dringend notwendige Vitalisierung und Modernisierung.

So kritisierte er, dass erbittert um Spiegelstriche bei Texten gekämpft werde, „die außerhalb der SPD den Aufmerksamkeitswert von ablaufendem Badewasser haben“. Er sprach von „Heulsusen“ in der SPD. Inzwischen wurde die Parteiorganisation gestrafft, die Bürger können am Wahlprogramm mitschreiben und die Flügel sind zahmer geworden.

In diesem Jahr sind gleich drei Steinbrück-Biografien erschienen. Die beiden Journalisten Eckart Lohse und Markus Wehner bezeichnen Steinbrück als einen der „zweifellos interessantesten Politiker dieser Jahre“. Eine Gefahr für ihn ist immer sein loses Mundwerk. Als Bundesfinanzminister (2005 bis 2009) bewegte er durch unbedachte Äußerungen schon mal die Märkte. Der Schweiz drohte er, selbstbewusst wie er nun mal ist, in Sachen Schwarzgeld mit der Kavallerie.

Geboren am 10. Januar 1947 in Hamburg, wächst er in einem eher konservativen Elternhaus auf, erst 1969 schwenkt der Vater wegen Willy Brandt auf die SPD um. Seinen eigenen trockenen Humor führt er auf seine Großmutter zurück – jüngst antwortete er einem Journalisten auf Fragen, ob er dieses oder jenes ausschließe: „Steinbrück schließt nicht aus, dass er Hundefutter isst“.

Als Schüler hatte er Flausen im Kopf. Neben Griechisch und Latein ist ausgerechnet Mathe ein Problem. Zweimal bleibt er sitzen. Statt zu lernen, schießt er Lehrern lieber aus dem Paternoster heraus mit einem Blasröhrchen Erbsen auf die Beine. „Wenn die sich umdrehten, war der Schütze schon weg – eine Etage tiefer oder höher“, schreiben Lohse und Wehner. Das Ende der Schulzeit empfindet er als Befreiung. Seine Klassenarbeiten verbrennt Steinbrück nach dem Abi im Ofen.

Bei der Bundeswehr findet er zur SPD. Steinbrücks Zugführer Albert Hittermeyer, ein SPD-Mitglied, sympathisiert mit der „Leutnant 70-Bewegung“, die für ein neues demokratisches Selbstverständnis der Bundeswehr wirbt. 1969 tritt er der Partei bei. Zum Studium der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften geht er nach Kiel. In der WG sortiert er sein Wissen in Zettelkästen, übt das „methodische Saugen“ in Quer- und Längslinien und wird von einem Sondereinsatzkommando der Polizei aufgescheucht, weil Nachbarn in der WG eine „Beutefeier“ von RAF-Mitgliedern vermuteten, die eine Bank überfallen hatten.

Seine politische Karriere beginnt 1974 im Bundesbauministerium und führt ihn in das Forschungsministerium und als Referent in das Bonner Bundeskanzleramt. Dort regiert Helmut Schmidt, der ihn geeignet hält für den Job des Regierungschefs. Von 1986 bis 1990 leitet er das Büro von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau. Anschließend ist Steinbrück bis 1998 in Kiel, unter anderem als Wirtschaftsminister.

Dann kehrt er nach Nordrhein-Westfalen zurück. Nach Stationen als Wirtschafts- und Finanzminister wird er 2005 als Nachfolger des nach Berlin gewechselten Wolfgang Clement Ministerpräsident. 2005 wird Steinbrück trotz der Wahlniederlage gegen die CDU zum Finanzminister in Berlin berufen. Im Oktober 2008 verkündet er mit Angela Merkel die berühmte Garantie für alle deutschen Spareinlagen. Eines macht er heute klar: Sollte er nicht Kanzler werden, geht er auf keinen Fall nochmals als Juniorpartner in ein Kabinett Merkel III.

Verheiratet ist er mit einer Lehrerin. Sie haben drei erwachsene Kinder. Steinbrück ist ein Schnellleser und begeisterter Cineast. Und Peer Steinbrück ist leidenschaftlicher Sammler von Schiffsmodelle. Sein schlimmstes Erlebnis: Eineinhalb Jahre hat er ein dänisches Linienschiff, „Det Norske Löw“, nachgebaut und muss nur noch die Takelage anbringen. Da springt die Katze der Tochter in das Modell. „Die Tierschützer mögen mir verzeihen: Hätte ich eine Waffe zur Hand gehabt, wäre es später zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gekommen“, sagte er dazu der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Dass der bald 66-Jährige so richtig will und die bisher unangreifbare Merkel mit Hilfe der Partei stellen möchte, wurde zuletzt beim Zukunftskongress der SPD-Fraktion sichtbar. Er hielt eine für ihn überraschend sozialdemokratische Rede. Die nervösen Reaktionen der Union auf sein Papier zur Bändigung der Finanzmärkte zeigten, dass er hier für die SPD einen möglichen Wahlkampfschlager gefunden hat. Mit seiner „klaren Kante“ ist er sicher der Kandidat, der Merkel am gefährlichsten werden wird. Aber eine so lange Strecke bis zur Wahl wollte er vermeiden – aus Angst, wundgerieben zu werden.