Ursula von der Leyen knüpft die Zuschussrente an ihr Ministeramt - und spricht im Abendblatt erstmals ausführlich über ihren demenzkranken Vater.

Hamburg. Bei Ursula von der Leyen (CDU) war bislang keine Neigung zu politischem Selbstmord diagnostiziert worden. Sachlich, bisweilen kühl, diplomatisch - das sind die Eigenschaften der ehrgeizigen Frau mit dem größten Etat, den Deutschland zu bieten hat. Ministerin für Arbeit und Soziales, das heißt Hartz-IV-Empfänger, Arbeitslose, Arbeitnehmer, Rentner als Pflichtprogramm und als Kür etwas "Gedöns" (Gerhard Schröder): Frauenquote in der Wirtschaft, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit dem Wirken dieser zierlichen Frau hat praktisch fast jeder Deutsche zu tun. Hat sie sich jetzt verrannt? Warum hat sie ausgerechnet ihren Plan einer Zuschussrente mit dem eigenen Amt verknüpft?

"Sie können mich an den Worten messen. Bis Ende Oktober müssen, das erwarte ich, die positiven Entscheidungen zur Zuschussrente getroffen sein. Dafür stehe ich auch, dafür stehe ich gerade. Das ist auch mein Ehrgeiz als Ministerin." So - oder nicht mehr mit mir, heißt das übersetzt, was von der Leyen in die Kameras der ARD bekannte.

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Sie kann puderzuckerfreundlich sein, aber auch stinksauer. Die Rente für Leute, die ihr Leben lang wegen Teilzeitjobs, Kindererziehung und niedriger Löhne nur wenig einzahlten, soll künftig auf 850 Euro im Monat aufgestockt werden. Privat vorsorgen müssen aber alle, die diese Extrazahlung in Anspruch nehmen wollen. Den Gewerkschaften schmecken die Pläne nicht, den Arbeitgebern auch nicht. Die FDP mosert daran herum. Ausgerechnet ihr Freund Philipp Rösler. Aus Niedersachsen wie sie, Arzt wie sie.

Für die streng rationale Rentenversicherung gehört diese Zuschussrente nicht zu den Kernaufgaben. Wer wenig verdient, habe keinen Anreiz, ein paar Stunden pro Woche mehr zu arbeiten, argumentieren die Kritiker. Denn: Ob ein paar Euro Rentenbeitrag mehr oder weniger - am Ende kommen ja nach von der Leyens Plan 850 Euro heraus. Das stimmt zwar nach ihren Korrekturen nicht mehr, verkauft sich aber gut im politischen Geschacher. Im Ministerium heißt es, die FDP stimmt der Zuschussrente nur zu, wenn die CDU mitmacht und dafür die Praxisgebühr abschafft. Und eben diese Kritiker befeuern von der Leyens Säuernis.

Wenn man sie in Berlin besucht, fragt sie "Cappuccino oder Latte? Wir haben hier einen richtig guten Latte." Jetzt hat sie offensichtlich den Kaffee auf. Ursula von der Leyen steht am Scheideweg. Was tun mit der angebrochenen Karriere? Sieben Jahre Familienministerin und Arbeitsministerin: Sie hat das Elterngeld eingeführt, den Kita-Ausbau forciert, den Kinderpornos den Kampf angesagt, unter Druck Hartz reformiert. Sie will die Frauenquote gesetzlich festlegen, verkündete Rekord um Rekord für den Arbeitsmarkt. Als Bundespräsident wurde ihr Christian Wulff vorgezogen, nachdem Horst Köhler hinwarf. Mit der Kanzlerin hat sie sich darüber ausgesprochen. Als Wulff gehen musste, zuckte sie nicht einmal mit der Unterlippe. Der Mann und seine Schnäppchenmentalität waren ihr peinlich.

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Und jetzt? Wahl 2013, noch einmal diese Ochsentour? Das nächste Kabinett Merkel? Die nächste Qualifikationsrunde? Für von der Leyen zählen nur noch Endspiele. Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders über ihren Vater Ernst Albrecht, Ministerpräsident von Niedersachsen 1976 bis 1990, ging sie in die Politik. So plötzlich, wie sie kam, kann sie wieder verschwunden sein. Dabei will sie noch so viel gestalten. Zwischen Aufsteigerin und Aussteigerin liegt nur ein Buchstabe.

In den vergangenen zehn Monaten brach sie gleich mehrere Tabus. Sie griff in die Tarifrunden ein und empfahl deutlich höhere Löhne wegen der guten Wirtschaftslage. Von der Leyen - geboren in Brüssel, zwischenzeitlich in London und den USA wohnhaft - machte sich für die Vereinigten Staaten von Europa stark. Lautstark. Nicht ihr Ressort, rümpften da andere die Nase. Und dann die Frauenquote, die sie in Vorständen und Aufsichtsräten auf 30 Prozent gesetzlich festlegen will. Das geht mit den Arbeitgebern, der FDP und der Frauenministerin Kristina Schröder gar nicht. "Wenn da nichts passiert", sagte von der Leyen im Januar im Abendblatt, "dann passiert was." Das war als Drohung gegen die DAX-Unternehmen gemeint.

Der Wortlaut bei ihrer Zuschussrenten-Revolution ist derselbe. Die so charmante Ministerin kann auch anders. In ihrem Haus hat sie nach verschiedenen Berichten den Personalrat mehrfach auflaufen lassen. Als "kalt" haben Verhandlungspartner sie in Sachen Hartz-Reform erlebt. Das perlt an ihr ab. Sie sei auch schon mit Magda Goebbels verglichen worden, hat sie einmal gesagt. Mit der Frau des Reichspropagandaministers, die ihre Kinderschar im Führerbunker vergiftete. In Deutschland muss es immer das ganz große Windrad sein, an dem man dreht, wenn's polemisch wird.

Von der Leyen, 53, hat sieben Kinder, einen Mann und ihren Vater zu Hause in Burgdorf bei Hannover. Ein Vater, der zu den großen deutschen Politikern zählte und jetzt ein Pflegefall ist: Alzheimer. Als sie bei "Wetten dass ..?" war, ließ sie sich vom Schauspieler Hugh Jackman auf Händen tragen. Nach Angaben einer Teilnehmerin haben die Gottschalk-Gäste bereits vor der Show Prosecco geschlürft. Mitten unter all den Sternchen wollte sie zeigen, dass sie noch keine Oma ist.

Am Sonnabend neben dem "Sexiest man alive" Jackman, am nächsten Morgen wieder daheim beim kranken Vater, die Sorgen der Kinder. Ab Montag Akten, Termine, Lächeln. Von der Leyens Disziplin ist eisern, ihr Panzer auch.

Im Abendblatt-Gespräch erzählte sie über ihren Vater, wie schwer ihm der Abschied vom Auto gefallen sei. Sie saß neben ihm. Er sah plötzlich eine Einbahnstraße, "wo vorher noch nie eine war". Sie sagte, da fahre man nun nicht rein, und dachte sich: Am besten fährt er überhaupt kein Auto mehr. Sein Alzheimer machte auch ihr Angst: "Ich habe ihn monatelang ängstlich beobachtet: Wird es schon schlimmer? Man macht sich da leicht verrückt." Ihre Lehre: "Man muss dem Alzheimer den Schrecken nehmen." Und: "Sie müssen lernen, mit den Skurrilitäten zu leben. Wenn er sich wohlfühlt, fängt er an zu singen - auch im Restaurant."

Freundlich und gütig sei ihr Vater in der Erkrankung. "Dafür sind wir dankbar." Aber es gibt da eine Schattenseite, die sie wütend macht: "In einem bestimmten Stadium musste man auch aufpassen, was er tut, wenn er einkauft oder Banküberweisungen tätigt. Es gibt da eine ganze Industrie, die bei Altersverwirrten noch über Telefongeschäfte oder Köderbriefe abzockt." Da ist wieder die Politikerin gefordert. Zu viel Privates offenbart sie nicht. Ursula von der Leyens politische Bilanz ist respektabel. Elterngeld und Kita-Ausbau sind heute so selbstverständlich wie das Betreuungsgeld der CSU verwirrend. Aber kommt die Zusatzrente nicht und versandet die Frauenquote - dann könnte sie die Unvollendete bleiben.