Deutschland steht nach den Worten von Hamburgs Alt-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi vor einer Neuordnung nach einer großen Krise. Diese wird großes unternehmerisches Talent verlangen wie nach 1949. Von Dohnanyi warnt daher: “Es darf kein Jahrzehnt nur der Verteilung werden.“

Hamburg. Hamburger Abendblatt: Herr von Dohnanyi, die Bundesrepublik Deutschland wird an diesem Sonnabend 60 Jahre alt. Wenn Sie zurückblicken - welches war das beste Jahrzehnt?

Klaus von Dohnanyi: Die Neunzigerjahre. Weil sie die Wiedervereinigung gebracht haben.

Abendblatt: Und das schlechteste Jahrzehnt?

von Dohnanyi: Die späten Sechziger und die Siebziger. Die ganze Bewegung der sogenannten 68er hat sie zu einem verlorenen Jahrzehnt gemacht. All die Diskussionen über utopische Veränderungen der Republik waren zu einem großen Teil überflüssig und auch langweilig.

Abendblatt: Welches ist die bedeutendste Persönlichkeit der bundesdeutschen Geschichte?

von Dohnanyi: Der größte Hamburger war zweifellos Helmut Schmidt. Die bedeutendste Wirkung für die Bundesrepublik hatte Ludwig Erhard. Er hat die soziale Marktwirtschaft durchgesetzt - gegen den Widerstand von Konrad Adenauer.

Abendblatt: Wer hat vor der Geschichte versagt?

von Dohnanyi : Das ist eine Frage, die ich mir nie gestellt habe.

Abendblatt: Früher regierten Brandt und Wehner, heute sind es Merkel und Kauder. Gibt es etwas, das Sie vermissen?

von Dohnanyi: Zunächst: Die globalisierte Welt erfordert Politikertypen, die sich einfühlen können in die internationalen Entwicklungen. Und ich würde sagen, Frau Merkel hat in dieser Beziehung ein sehr gutes Sensorium. Was mir allgemein fehlt, sind politische Debatten, die zu einem tieferen Verständnis unserer Probleme führen. Wenn ich mir überlege, wie die Debatten über die Gründung der EU, den Beitritt zur Nato oder die Ostpolitik Willy Brandts gelaufen sind, dann ist das heute schon ziemlich flach.

Abendblatt : Was wird die größte Herausforderung im nächsten Jahrzehnt sein?

von Dohnanyi: Die Neuordnung nach der großen Krise. Wir stehen vor einer sehr offenen Entwicklung, und diese wird wieder großes unternehmerisches Talent verlangen, wie nach 1949. Es darf kein Jahrzehnt nur der Verteilung werden, es muss ein Jahrzehnt sein, in dem sich die Bundesrepublik neu aufstellt. Und meine Sorge ist, dass wir die Akzente falsch setzen.

Abendblatt: Inwiefern?

von Dohnanyi: Wir denken viel über die Gier des Menschen nach und wenig darüber, was heute und morgen an unternehmerischem Geist gefragt ist. Wir sehen ja: Da gehen große Unternehmen wie General Motors oder Chrysler möglicherweise Pleite, Fiat taucht plötzlich auf und will Opel kaufen: Wer wird überleben?

Abendblatt: Worauf wollen Sie hinaus?

von Dohnanyi: Wir brauchen sicher eine neue Finanzordnung, wir brauchen strengere Regeln. Aber wir brauchen auch zukünftig Risikobereitschaft. "Spekulation" darf nicht generell verurteilt werden: Wenn wir in Deutschland "spekulatives" Investieren diffamieren, werden wir viele Nachteile haben, und keine neuen Unternehmen.

Abendblatt: 60 Jahre Bundesrepublik sind 20 Jahre vereintes Deutschland. Wie ist es um die innere Einheit bestellt?

von Dohnanyi: Wer behauptet, in unserem Land hätten die Unterschiede zugenommen, hat nur sehr begrenzt recht. Deutschland ist Gerechtigkeitsweltmeister. Vor 20 Jahren lag das durchschnittliche Einkommen in Ostdeutschland bei etwa einem Drittel des westdeutschen Einkommens. Heute liegt es bei gut zwei Dritteln. Und diese Differenz ist auch durch große Transfers aus dem Westen möglich gemacht worden. Insofern haben wir sehr viel erreicht.

Abendblatt: Würdigen das die Leute, die den Osten verlassen, nicht genug?

von Dohnanyi: Jeder hat sein eigenes Leben, ich will das nicht bewerten.

Abendblatt: Was sehen Sie, wenn Sie über die Elbe nach Osten schauen?

von Dohnanyi: Blühende Landschaften und hohe Arbeitslosigkeit.

Abendblatt: Wie lange müssen wir noch für den Osten zahlen?

von Dohnanyi: Die Transferleistungen nehmen ja schrittweise ab. Der Solidarpakt Ost läuft 2019 aus, und der Abbau beginnt 2010. Das beunruhigt natürlich die ostdeutschen Regierungen. Das ist auch der Grund, warum sie gegen Steuersenkungen sind. Ich habe dafür großes Verständnis. Angesichts der großen Aufgabe, die wir auch im Osten noch haben, sind Steuersenkungen eine Illusion.

Abendblatt: Was sagen Sie Ihren Parteifreunden, die sich weigern, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen?

von Dohnanyi: Man kann natürlich zu der Auffassung kommen, dass die Polikliniken der DDR eine gute Lösung waren. Und Mörder sind auch in der DDR gerecht bestraft worden. Auch die Schuhe haben den Menschen gepasst. Aber was als Glocke über allem stand, war Unrechtsstaat und Diktatur.

Abendblatt: Selbst die Bundespräsidentenkandidatin der SPD, Gesine Schwan, will nicht von Unrechtsstaat sprechen. Was sagt das über ihre Qualifikation für das höchste Staatsamt aus?

von Dohnanyi: Das sollen die Leute beurteilen, die sie wählen. Ich war mit ihrer Äußerung jedenfalls nicht einverstanden.

Abendblatt: Ist Horst Köhler ein guter Bundespräsident?

von Dohnanyi: Ja.

Abendblatt: Hätte er es verdient, an diesem Sonnabend für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden?

von Dohnanyi: Er macht seine Arbeit gut. Köhler versucht nicht, mit allgemeinen Reden zur Moral über den Wassern zu schweben. Ich halte ihn für einen moralisch sehr integren Mann, der versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen den Zwängen der Wirtschaft und den täglichen Sorgen der Menschen. Das ist heute sehr wichtig.

Abendblatt: Der SPD-Vorsitzende Müntefering hat eine neue Verfassung für das vereinte Deutschland gefordert. Unterstützen Sie ihn?

von Dohnanyi: Nein. Wir brauchen kein neues Grundgesetz - auch wenn es durch eine Vielzahl von Änderungen ganz schön kompliziert geworden ist.

Abendblatt: Brauchen wir mehr direkte Demokratie? Volksabstimmungen etwa über Grundsatzentscheidungen der Europäischen Union?

von Dohnanyi: Bei den europäischen Fragen, die für die Menschen oft sehr weit weg und sehr abstrakt sind, bin ich skeptisch. Auf der Bundesebene würde ich mit der Volksinitiative beginnen. Dann muss das Parlament sich mit Gesetzesinitiativen befassen, die das Volk wünscht, ihnen folgen oder sie ablehnen.

Abendblatt: Herr von Dohnanyi, warum haben Sie niemals höhere und höchste Staatsämter angestrebt?

von Dohnanyi: Was gibt es denn Höheres als Hamburg?

Abendblatt: Nicht viel. Bundeskanzler, Bundespräsident ...

von Dohnanyi: Dafür war ich nicht geeignet. Außerdem muss man dafür viel Parteiarbeit machen. Dazu war ich nie bereit. Ich habe immer sehr viel gelesen und sehr viel studiert, denn ich kann einfach nicht arbeiten, ohne wirklich zu verstehen, was ich tue. Dafür zahlt man einen Preis. Aber ich wäre gerne Chef des Bundeskanzleramtes bei einem hervorragenden Kanzler gewesen.