Bundesverfassungsgericht hat an Einfluss auf die Politik gewonnen. Das liegt unter anderem auch an schlampiger Gesetzgebung.

Hamburg. Wolfgang Schäuble flehte fast. Der Bundesfinanzminister, ein Schwergewicht in der Bewältigung der Euro-Krise, rang um dramatische Worte, die sonst gar nicht seine Sache sind. "Die Nervosität der Märkte ist sehr groß", erklärte Schäuble den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes am Ende eines langen Verhandlungstages in Karlsruhe. "Die Bundesregierung möchte keinen Druck ausüben - doch es ist eine Frage von Wochen."

Selten musste sich ein Mitglied einer Bundesregierung vor den Richtern in den roten Roben derart ins Zeug legen wie Schäuble vor zwei Wochen. Die Euro-Krise entgleitet den politischen Akteuren. Die Rating-Agenturen, die "Märkte" und die Bürger der Schuldenstaaten spielen verrückt. Und Karlsruhe hat Eilanträge von CSU-Rebell Peter Gauweiler, der Linksfraktion und einem Bündnis besorgter Bürger vorliegen. Sie wollen den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt stoppen, den der Bundestag bereits beschlossen hat.

Das Bundesverfassungsgericht will erst am 12. September entscheiden. Wie Generationen von Karlsruher Rechtshütern vor ihm hat sich Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle unbeeindruckt gezeigt von Klägern, Verteidigern, Märkten, Politik. Er hat sich mehr Zeit ausbedungen. Schließlich geht es darum, ob die Verträge das Haushaltsrecht des Bundestages einschränken. Das berührt das Grundgesetz im Kern.

Und es zeigt, wie sehr die Bundesverfassungsrichter an Einfluss gewonnen haben, wie sehr Berlin vor Karlsruhe zittert. "Das Gericht befindet sich längst mitten in der politischen Arena", sagte der Hamburger Staatsrechtler Prof. Ulrich Karpen. Vor Jahrhunderten hätten sich die Parlamente das Haushaltsrecht erkämpft. "Und derzeit ist der Bundestag unter dem Druck von Regierung und Öffentlichkeit unangemessen eilfertig geworden." Es gebe generell Nachlässigkeiten bei den Gesetzen, so Karpen. Er muss es wissen. Karpen war jahrelang Vorsitzender der Gesellschaft für Gesetzgebung. Schäubles Verhalten in Karlsruhe sei zu weit gegangen. "Das kam mir wie eine Bevormundung vor", sagte Karpen. Das Bundesverfassungsgericht müsse "ein Raum der Entschleunigung" bleiben.

+++Vier Männer gegen den europäischen Rettungsschirm+++

+++Die Nacht, in der Merkel zermürbt wurde+++

Das sieht auch der rechtspolitische Sprecher der FDP so: Christian Ahrendt sagte dem Abendblatt: "Es ist sinnvoll, dass sich das Bundesverfassungsgericht für die Entscheidung Zeit nimmt." Karlsruhe habe die Rechte des Bundestags bei den Euro-Rettungsschirmen EFSF und ESM gestärkt. Das sagt er, obwohl die FDP als Regierungspartei auf die Tube drücken muss. Und es hat zuletzt immer häufiger Ermahnungen und deutliche Ohrfeigen aus Karlsruhe für Berliner Nachlässigkeiten gegeben - unabhängig davon, wer regierte.

So war der Karlsruher Spruch zu den Asylbewerbern in der vergangenen Woche ein krasses Urteil über die Versäumnisse vergangener Regierungen. "Es gibt keine Menschen zweiter Klasse in Deutschland", so der Tenor. Menschenwürde, sozialer, demokratischer Staat - das hält das Land im Innersten zusammen. Der Spruch knüpfte an das Hartz-IV-Urteil vom Februar 2010 an: Ein menschenwürdiges Existenzminimum ist ein Grundrecht, urteilten die Richter da. Bemängelt wurde nicht die Höhe des Hartz-Satzes, sondern die undurchsichtige Berechnung. In dieselbe Kerbe stieß das Urteil zur Pendlerpauschale 2008. Karlsruhe urteilte nicht, ob Berufspendler einen Steuervorteil haben müssen. Die Richter legten aber fest, dass die Unions-SPD-Regierung nicht einfach Kurzpendler gegenüber Langpendlern benachteiligen dürfe.

Die Richter haben in den vergangenen Jahren Gesetze kassiert, weil sie schlecht begründet, hektisch geschrieben oder sinnlos waren: das Luftsicherheitsgesetz nach dem 11. September für mögliche Abschüsse von gekaperten Passagierjets, die Vorratsdatenspeicherung, das NPD-Verbot.

Heute wird es wieder heikel. Das Wahlrecht liegt erneut vor den Richtern. Gerichtspräsident Voßkuhle wird für Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Nemesis, zu einem Sinnbild für gerechten Zorn über Versäumnisse der Politik. Aber die richterliche Kontrolle kann auch erhebliche Konsequenzen haben. Ein Bundestagsabgeordneter sagte dem Abendblatt: "Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn Karlsruhe den Rettungsschirm ESM für verfassungswidrig erklärt und am selben Tag die Finanzmärkte zusammenkrachen."