Der neue TK-Vorstandschef Dr. Jens Baas über eine mögliche Abschaffung der Praxisgebühr und Ärzte, die nicht immer sauber arbeiten.

Hamburg. Der ausgebildete Arzt Dr. Jens Baas ist seit dem 1. Juli Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, die über acht Millionen Versicherte hat. Das Hamburger Abendblatt sprach mit ihm über die unbeliebte Praxisgebühr, neue Leistungen für Patienten und die Tücken der Pflegeversicherung.

Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Baas, die gesetzlichen Krankenkassen haben Milliarden Euro Rücklagen. Warum zahlt die Techniker Krankenkasse ihren Mitgliedern keine Prämie aus?

Dr. Jens Baas: Wir prüfen derzeit, wie und in welcher Höhe wir die Finanzreserven der TK zum Nutzen der Versicherten und Beitragszahler einsetzen können. Da ist die Auszahlung einer Prämie eine Option, aber keineswegs die einzige. Auch über Leistungs- und Tarifverbesserungen denken wir nach. Das alles ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem wir natürlich auch die finanzielle Stabilität, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen und die Wettbewerbsposition unseres eigenen Unternehmens im Auge haben müssen.

Warum glauben Sie, dass das Geld besser bei Ihnen als bei den Versicherten aufgehoben ist?

Baas: Erst einmal ist es doch – auch politisch – erfreulich dass wir von Überschüssen und Reserven im Gesundheitssystem sprechen und nicht von Defiziten oder gar Schulden. Die Finanzausstattung des Gesundheitsfonds und der Krankenkassen ist im Moment auch deshalb so positiv, weil der Einheitsbeitragssatz zu hoch festgesetzt worden ist und sich die Wirtschaft besser entwickelt hat als angenommen, aber auch, weil Maßnahmen der Regierung zur Dämpfung des Kostenanstiegs vor allem im Arzneimittelbereich gut gegriffen haben. So wird die Lage aber nicht bleiben. Schon bald wird die Schere zwischen der Entwicklung der Einnahmen und der Ausgaben wieder auseinandergehen, die Anfänge sehen wir ja bereits. Für 2013 rechnen wir für die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt noch mit einem ausgeglichenen Ergebnis, 2014 wird das System voraussichtlich wieder rote Zahlen schreiben. Wenn dann die Techniker Krankenkasse dank vorhandener Reserven keinen Zusatzbeitrag erheben muss, nutzt das unseren Mitgliedern. Die Höhe einer Prämie und was davon beim Mitglied ankommt, wird übrigens häufig überschätzt – zumal der Empfänger sie noch versteuern muss. Von 100 Euro bleiben dann vielleicht 70 Euro übrig. Außerdem müssen wir den ausgezahlten Betrag an die Finanzämter unserer Kunden melden, und wenn das Mitglied dann vergisst, die Prämie in seiner Steuererklärung anzugeben, droht ihm Behörden-Ärger.

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Welche Leistungen können Sie sich vorstellen, von denen die Patienten profitieren könnten?

Baas: Wir haben ja schon zum Jahresbeginn unsere Leistungen deutlich erweitert – Stichworte sind Osteopathie und Naturarzneimittel. Jetzt kommen Zuschüsse zu sportmedizinischen Untersuchungen, wir erweitern die Haushaltshilfe und verbessern die Situation von Lebendorganspendern. Generell glauben wir, gezielt in Gesundheitsvorsorge und die Gesunderhaltung der Versicherten zu investieren ist sinnvoll und zahlt sich aus.

Was halten Sie von der politischen Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen?

Baas: Das würde die Versicherten und Patienten unmittelbar entlasten, für unsere Kunden würde ich mich daher freuen. Die Gebühr hat keine Steuerungswirkung entfaltet. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass die Gesetzesbegründung sie damals ausdrücklich als ein Finanzierungselement gesehen hat. Es war eine politische Entscheidung, die Praxisgebühr einzuführen, und ihre Abschaffung wäre ebenso eine politische Entscheidung. Allerdings muss die Politik in wenigen Jahren, wenn die Finanzsituation des Gesundheitsfonds und der Krankenkassen nicht mehr so erfreulich ist wie heute, die Antwort darauf geben, wie die dann fehlenden zwei Milliarden Euro, die die Praxisgebühr bisher bringt, gegenfinanziert werden sollen.

Wie schätzen Sie die neue private Pflegeversicherung von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) ein, zu der jeder 5 Euro im Monat als staatlichen Zuschuss erhalten soll?

Baas: Wir müssen uns vor Augen führen, dass die gesetzliche Pflegeversicherung immer als eine Art "Basis"-Versicherung konzipiert war, die nicht alle Kosten abdeckt. Bei ihrer Einführung vor nunmehr fast 20 Jahren war es das Ziel, die Pflegebedürftigen aus der Sozialhilfe herauszuholen. Den Vorstoß des Gesundheitsministers begrüße ich, weil er einen Anreiz setzt, privat vorzusorgen. Vielen Menschen ist noch nicht bewusst, wie notwendig das ist.

Wie können diese Pflegeversicherungen aussehen?

Baas: Es ist angedacht, dass die förderbaren Versicherungstarife niemanden abweisen und auch keine individuellen Risikozuschläge erheben dürfen. Das macht die Tarife natürlich teurer. Es kann passieren, dass jemand besser fährt, wenn er auf den Zuschuss verzichtet und eine Police mit individueller Risikoprüfung wählt.

Die Furcht vor Pflegebedürftigkeit wächst. Kann man durch einen Pflegefall arm werden?

Baas: Eine lange Pflegebedürftigkeit kann Menschen in der Tat in den Bankrott treiben – auch wenn sie eine auskömmliche Altersversorgung haben und über Ersparnisse verfügen. Vielen heute 40- oder 50-Jährigen ist das aber gar nicht klar. Die Pflegeversicherung hat übrigens ein viel größeres demografisches Problem als die Krankenversicherung.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat festgestellt, dass man niedergelassene Ärzte praktisch bestechen kann, weil sie keine Amtsträger und keine Beauftragten der Krankenkassen sind. Was folgt aus dem Urteil politisch?

Baas: Unabhängig von der rechtlichen Würdigung durch den BGH muss klar sein, dass Vorteilsnahme oder -gewährung bei unseren ärztlichen Vertragspartnern nicht tolerabel ist. Es geht um mehr als die Kategorie "Das gehört sich nicht." Hier sind die ärztlichen Standesvertretungen gefordert, genau hinzuschauen und im Falle des Falles auch für Sanktionen zu sorgen. Meiner Meinung nach impliziert das Urteil des BGH einen Auftrag an den Gesetzgeber, die Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Korruption hier bestraft werden kann – also einen Straftatbestand zu schaffen.

Die Ärzte sind auf der Zinne, weil ihr Berufsrecht ihnen die Annahme von Geschenken verbietet. Sie fühlen sich zu Unrecht einem Verdacht ausgesetzt, der auch durch die Aufdeckung von Abrechnungsbetrügereien Einzelner in Millionenhöhe befeuert wird. Was können Krankenkassen tun, um das offensichtlich belastete Verhältnis zu den Medizinern zu verbessern?

Baas: Einen ganzen Berufsstand unter Generalverdacht zu stellen, halte ich für unerträglich – und das nicht nur, weil ich selbst Arzt bin. Aus meiner Erfahrung weiß ich und habe es auch so erlebt, dass man diesen Beruf ergreift, um Patienten zu helfen und nicht, um sich bestechen zu lassen. Allerdings habe ich es als junger Mediziner bei einer Praxisvertretung auch schon persönlich erlebt, dass man mir einen Videorekorder andienen wollte – schließlich müsse ich das Erklärungsvideo zur Anwendungsbeobachtung ja auch anschauen können … Ärzte sind keine besseren oder schlechteren Menschen als andere; die übergroße Mehrheit verhält sich korrekt und hat ein eigenes Interesse daran, den schwarzen Schafen das Handwerk zu legen. Ich bin überzeugt, dass Krankenkassen und Ärzte nicht nur bei diesem Thema am gleichen Strang ziehen sollten. Auch Aktivitäten einer Kasse zum Beispiel zur Information oder Steuerung von Patienten können nur erfolgreich sein, wenn der Arzt weiß, dass sich das nicht gegen ihn und seine Patientenversorgung richtet. Gemeinsamkeit ist gefragt, dann funktioniert es auch.

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Wie werden Sie die Techniker Krankenkasse umbauen, um gegenüber den anderen Kassen weiter Mitglieder zu gewinnen?

Baas: Wir beobachten natürlich die Megatrends und ziehen daraus die Konsequenzen für unser Unternehmen. Ich bin davon überzeugt, dass es künftig noch viel mehr als heute darauf ankommen wird, die Erwartungen der individuellen Kunden zu bedienen und uns an seinen Bedürfnissen auszurichten. Angebote und Dienstleistungen müssen wir ihnen noch passgenauer zur Verfügung stellen – und zwar zu genau dem Zeitpunkt und auf dem Weg, auf dem sie es wünschen.

Was wird die Kassenlandschaft und das Verhältnis zur privaten Krankenversicherung in Zukunft prägen? Und welche Chancen und Risiken birgt das für die Krankenversicherten?

Baas: Die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen wird sich weiter verringern. Das ist auch nicht schlimm, wenn man bedenkt, dass die Hälfte aller Anbieter weniger als 50.000 Menschen versichert. Es werden genügend Kassen am Markt bleiben, damit die Kunden Wahlmöglichkeiten haben und es Wettbewerb gibt. Für die gesetzlich Versicherten sehe ich da überhaupt keine Risiken. Die privaten Krankenversicherer werden in schwere See kommen, auch wegen Nachwuchsproblemen. Ich glaube, dass die Systeme mittelfristig nicht mehr so nebeneinander existieren werden wie heute.