Auf ihrem Parteitag in Kiel reden die Grünen über Europa und die Wirtschaft. Sie hatten ihre bisher beste Phase - bis zur Berlin-Wahl.

Kiel. Am Sonntagmittag, wenn hier in der Sparkassen-Arena in Kiel alles vorbei ist, wollen sie losziehen. Zahlreiche Delegierte der Grünen fahren in Bussen und Autos in Richtung Wendland, auch der Vorstand um Claudia Roth und Cem Özdemir wird dabei sein. Der Castor rollt mit Atommüll ins Zwischenlager nach Gorleben, und die Grünen rollen vom Bundesparteitag direkt zum Protest. Für die Partei rundet diese Dramaturgie das Delegiertentreffen mit einem symbolträchtigen letzten Akt ab: Der Protest gegen Atomkraft, er ist grüner Ursprung, hier sind sich alle einig, ob Realo oder Fundi, im Wendland stehen sie geschlossen, egal wie hitzig sie in Kiel streiten über Vermögenssteuer und Koalitionen mit der Union.

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2011 war das erfolgreichste Jahr der Grünen. Sie sitzen nun in allen Landtagen, die Wutbürger in Stuttgart protestierten mit Winfried Kretschmann den ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik an die Macht, die schwarz-gelbe Bundesregierung macht endlich, was die Grünen immer gefordert haben: Sie steigt aus der Atomkraft aus. Zeitweise hatten die Grünen 28 Prozent in den Umfragen. Das Kanzleramt schien greifbar nahe.

Das Treffen in Kiel hätte eine wohlfühlige grüne Adventszeit einleiten können. Vor genau einer Woche besang der Berliner Liedermacher Rainald Grebe hier in der Kieler Halle noch die schwarz-grüne Republik im Prenzlauer Berg mit ihrem Bionade-Biedermeier. Doch ebendieses Berlin war schuld daran, dass die Grünen zu ihrem Treffen in Kiel als verunsicherte Partei kommen. Renate Künast enttäuschte als Spitzenkandidatin, SPD und CDU regieren nun im Roten Rathaus. Viele Fragen blieben, die nun auch in Kiel neben dem Parteitagsprogramm zu hören sind: Wie spießig dürfen die Grünen sein? Wie gefährlich werden die Piraten auf der linken Seite? Wie hält die Partei es mit einer Koalition mit der Union?

Am gläsernen Eingang der Sparkassen-Arena hängt ein grünes Plakat: "Hier gibt's Antworten" steht dort. Noch bis Sonntag legen die 850 Delegierten mit etwa 450 Anträgen die Eckpfeiler für ein Regierungsprogramm für die Bundestagswahl 2013. Die Grünen suchen ein Fundament einer "grünen Volkspartei", die auch ohne Stuttgart 21 und Atomproteste erfolgreich sein kann. Antworten wollen sie finden - dafür, wie grüne Wirtschaft in einem Land aussehen soll, das bis 2050 den Kohlendioxidausstoß um mindestens 80 Prozent reduzieren will. Auch über innerparteiliche Demokratie, Steuern und Wirtschaft geht es an diesem Wochenende. Am Freitagabend hat der Parteitag mit einer Debatte über Europa begonnen. Die Delegierten reden in Kiel auch über grüne Finanzpolitik in Zeiten der Euro-Krise. Der Parteivorstand fordert Euro-Bonds, die Merkel weiter ablehnt, einen europäischen Bankenrettungsfonds, eine Schuldenbremse für Banken sowie Notkredite der EU für Euro-Krisenstaaten. "Wir glauben, dass die Krise ganz zentral in Berlin im Kanzleramt sitzt, weil Frau Merkel wartet und wartet und wartet", sagte Grünen-Chef Özdemir. Am späten Freitagabend hat der frühere griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou in der Halle eine Gastrede gehalten.

"Antworten mit Biss" wollen die Grünen in Kiel liefern, so versprechen es Schilder neben Körben mit Äpfeln. Doch es kommen auch die alten Fragen: Steht ihr zusammen? Zerreißen euch die Flügel? "Ich sage klar: Wir stehen zusammen." So beantwortet Robert Habeck diese Fragen. Er ist Spitzenkandidat der Grünen in Schleswig-Holstein, das im Mai einen neuen Landtag wählt. Noch ein Thema ist seit den vergangenen Wochen auf der Tagesordnung der Grünen gelandet. Wie umgehen mit den Neonazi-Morden der Thüringer Zelle. Die Grünen müssten "die richtige Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit vorgeben", sagt Habeck. Aber auch die Arbeit der Sicherheitsbehörden gehöre überprüft. "Ein gemeinsamer und länderübergreifender Verfassungsschutz für Norddeutschland kann eine erste wichtige Lehre aus den Neonazi-Morden sein", sagt Habeck. Grünen-Chefin Roth warb noch einmal für ein Verbot der NPD - und einen Abzug der V-Leute aus der rechten Partei.

Die Grünen debattieren in Kiel viele Inhalte, es gibt Workshops und etliche Redebeiträge. Am Sonnabend diskutieren die Delegierten von neun bis 23 Uhr. Doch jedes Wahlprogramm braucht Personen, die es gut verkaufen. Die Realpolitikerin Renate Künast hat das in Berlin nicht geschafft. Auch deshalb hat Fraktionschef Jürgen Trittin Aufwind. Er gilt in Umfragen des ZDF als einflussreichster Grünen-Politiker. Schafft die Partei 2013 den Regierungswechsel könnte er Finanzminister - und sogar Vizekanzler - werden. 29 Prozent der Befragten sind dieser Meinung. Cem Özdemir halten nur 13 Prozent für einflussreicher. Wenn die Partei in Kiel am Sonnabendnachmittag die Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 42 auf 49 Prozent ab Einkommen von 80 000 Euro und eine Vermögensabgabe und Vermögenssteuer debattiert, wird Trittin seine Rede halten. Laut, provokant, wie immer.

Özdemir sitzt für die Grünen nicht einmal im Bundestag. Er gibt den besonnenen Parteichef. Er hat gute Kontakte zu Unternehmen, einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent hält er für zumutbar - eine dauerhafte Vermögenssteuer, wie es einzelne Landesverbände fordern, lehnt er jedoch ab. Der Richtungsstreit der Berliner Grünen wird den Parteitag nicht dominieren - doch Ruhe dürfte auch danach, bis zur Wahl 2013, nicht eintreten. Am Sonntag aber geht es erst mal nur in eine Richtung. Gegen den Castor.