Die Parteispitzen der Koalition einigten sich auf ein Milliardenpaket, das Steuerentlastungen und weitere wichtige Reformen beinhaltet.

Berlin. Nach einem zähen Verhandlungsmarathon stieg weißer Rauch aus dem Kanzleramt auf. Die schwarz-gelbe Koalition hat einen Konsens im schwelenden Steuerstreit gefunden und sich auf ein Milliardenpaket zu Entlastungen und wichtigen Reformen geeinigt. Es gebe eine "umfassende Lösung" in den Bereichen Steuern, Pflege, Zuwanderung, Verkehr sowie Betreuungsgeld, hieß es.

Das Steuerpaket umfasst nach Angaben von Bundeskanzlerin Angela Merkel insgesamt sechs Milliarden Euro. Gleichzeitig kommen auf die Bürger aber höhere Beiträge zur Finanzierung der Pflege-Reform zu. Die CSU setzte das umstrittene Betreuungsgeld durch. „Das sind Beschlüsse mit Augenmaß“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntagabend nach fast achtstündigen Beratungen der Spitzen von Union und FDP.

Mehr Geld will die Koalition für Investitionen in Straße und Schienen in die Hand nehmen, um die sich abschwächende Konjunktur zu stützen. Vor dem Hintergrund der Euro-Schuldenkrise und größerer Risiken für das Wachstum betonte Merkel, Deutschland müsse Stabilitätsanker in Europa bleiben.

Die CDU-Chefin unterstrich, dass die Sanierung der Haushalte Vorrang habe und die Schuldenbremse im Grundgesetz eingehalten werde. Unter dem Strich lasse die Koalition „ein Stück weit mehr Gerechtigkeit walten“ – insbesondere bei den Steuern.

Dort gab es nach heftigen Auseinandersetzungen eine Kompromisslösung. So sollen Steuerfreibeträge in zwei Stufen angehoben werden, um gezielt Arbeitnehmern mit geringem Einkommen finanziell mehr Luft zu verschaffen. Ab 2013 soll der steuerliche Grundfreibetrag (Existenzminimum) angehoben werden, was die Regierung aber ohnehin bis 2014 tun müsste. Dies kostet Bund und Länder jeweils zwei Milliarden Euro.

Zur Abmilderung der „kalten Progression“ – Lohnerhöhungen werden bei starker Inflation vom Fiskus größtenteils wieder aufgefressen - will der Bund 2,2 Milliarden Euro alleine tragen. Beim gesamten Steuerpaket will der Bund vier von sechs Milliarden Euro schultern, die Länder sollen zwei Milliarden Euro übernehmen.

+++ Die CDU und der Mindestlohn +++

+++ 40 Milliarden zusätzlich Steuereinnahmen +++

+++ Koalition zerstritten über die Steuerentlastung ab 2013 +++

+++ Gabriel: "Steuersenkungen sind unverantwortlich" +++

+++ Einigung bei Steuersenkung? Seehofer weiß von nichts +++

Mit diesem Entgegenkommen hofft Schwarz-Gelb, die von SPD und Grünen regierten Länder überzeugen zu können. Diese hatten Steuersenkungen zuvor aber klar abgelehnt. SPD-Chef Sigmar Gabriel will sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Steuersenkungen klagen. Ohne das Ja der Länder im Bundesrat kann die Koalition das Gesamtpaket nicht durchsetzen.

FDP-Chef Philipp Rösler sagte zur Steuereinigung: „Es ist der Einstieg aus dem Ausstieg aus der kalten Progression.“ Es gehe darum, „Leistungsträger in unserer Gesellschaft auch weiter zu mobilisieren.“ Steuersenkungen waren ein zentrales Wahlversprechen der Liberalen, die derzeit in Umfragen unter fünf Prozent liegen.

CSU-Chef Horst Seehofer meinte, die Chancen von Schwarz-Gelb seien im Bundesrat nun deutlich gestiegen. Die Unions-Ministerpräsidenten seien im Grundsatz bereits informiert worden. Der bayerische Regierungschef drückte das im Koalitionsvertrag bereits vorgesehene Betreuungsgeld für Eltern gegen Widerstände der FDP durch.

Eltern, die für ihre unter drei Jahre alten Kinder keine Krippe in Anspruch nehmen und sie selbst betreuen, erhalten ab 2013 monatlich 100 Euro im zweiten Lebensjahr des Kindes. Ab 2014 gibt es 150 Euro für das zweite und dritte Lebensjahr.

Der Beitrag zur Pflegeversicherung soll 2013 um 0,1 Prozentpunkte angehoben werden. Dies bringt rund 1,1 Milliarden Euro mehr in die Kasse. Bislang liegt der Beitragssatz bei 1,95 Prozent, für Kinderlose sind es 2,2 Prozent. Merkel betonte, das Geld solle insbesondere für die Versorgung von Demenzkranken verwendet werden. Für die künftige Vorsorge im Pflegefall sollen die Versicherten freiwillig individuell nach dem erfolgreichen Modell der Riester-Rente sparen. Die FDP-Forderung nach einer obligatorischen Zusatzversicherung ist damit vom Tisch.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) erhält schon im nächsten Jahr eine Milliarde Euro mehr für die Verkehrsinfrastruktur. Dies soll Aufträge und Arbeitsplätze im Mittelstand sichern. Über die von der CSU geforderte PKW-Maut wird erst Anfang 2012 entschieden.

Bei der Zuwanderung wird die Einkommensgrenze von 66.000 auf 48.000 Euro gesenkt, um mehr ausländische Experten zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ins Land holen zu können. Unbefristet in Deutschland dürfen qualifizierte Zuwanderer aber nur bleiben, wenn sie drei Jahre lang keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme werde es nicht geben, sagte Seehofer.

Info: Die Kalte Progression in der Einkommensteuer

Mit dem Begriff Kalte Progression ist gemeint, dass im deutschen Steuersystem kleinere Lohnerhöhungen im Endeffekt zu einem sinkenden Realeinkommen führen können.Wenn ein Arbeitnehmer eine Lohnerhöhung bekommt, die lediglich so groß ist wie die Inflation (also die allgemeine Preissteigerung), rutscht er oftmals in einen höheren Steuertarif: Er gibt dem Staat einen höheren Prozentsatz seines Einkommens ab als vorher. Die höhere Besteuerung führt unterm Strich somit zu einem Verlust. Der Steuerzahler hat kein höheres Realeinkommen, sondern sogar ein geringeres: Er kann sich – rein rechnerisch – mit seinem neuen Einkommen weniger kaufen als mit seinem alten.

Eine Möglichkeit, die Kalte Progression auszugleichen, wäre die automatische Anpassung der Steuertarife an die Preissteigerung – ein sogenannter Tarif auf Rädern. Auch ein pauschaler Steuersatz, der unabhängig von der Einkommenshöhe für alle Bürger gleich wäre, könnte das Problem lösen. Diese Varianten lehnen Rösler und Schäuble aber ab. Sie wollen stattdessen, dass alle zwei Jahre ein Bericht über die Auswirkungen der Kalten Progression vorgelegt wird, auf dessen Grundlage dann über eine erneute Tarifkorrektur entschieden werden soll. Erstmals soll der Steuertarif zum Anfang 2013 angepasst werden.

Pflegebeitrag steigt - Bahr: "Vernünftig"

Die von der FDP seit Monaten geforderte Einführung einer verpflichtenden Zusatzvorsorge für künftigen Pflegebedarf ist vom Tisch. Die Koalitionsspitzen einigten sich am Sonntag im Kanzleramt stattdessen auf steuerliche Anreize für eine freiwillige Vorsorge nach dem Muster der Riester-Rente. Der Pflegebeitrag steigt zum 1. Januar 2013 um 0,1 Punkte auf 2,05 Prozent. Die damit gewonnenen Mittel in Höhe von einer Milliarde Euro jährlich sollen vor allem den Demenzkranken dienen, die heute in der Pflegeversicherung oft leer ausgehen – sowie ihren Angehörigen.

Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) sagte: „Das ist eine vernünftige Lösung.“ Sie ermögliche schnell und wirksam die Situation für Pflegebedürftige und deren Angehörige zu verbessern. „Der besondere Betreuungsaufwand für Demenz wird endlich berücksichtigt.“ CSU-Chef Horst Seehofer sagte: „Das ist eine schöne Sache, und es ist mit Augenmaß gemacht.“

Zudem soll der Regierungsbeirat wieder eingesetzt werden, der bereits Bahrs Vorvorgängerin Ulla Schmidt (SPD) Vorschläge für eine bessere Eingruppierung der Dementen in die Versicherung gemacht hatte, bestätige ein Sprecher. Die Experten sollen darlegen, wie die Altersverwirrten umfassend besser versorgt werden können. Der Finanzrahmen dabei bleibe aber wie beschlossen, hieß es.

Von den 1,2 Millionen Altersverwirrten werden etwa 750.000 mit geringer Hilfe zu Hause gepflegt. Familienangehörige gehen zu Hunderttausenden auf dem Zahnfleisch. Der Regierungsbeirat hatte bereits 2009 ausgerechnet, dass eine Neueinstufung von Dementen bis zu vier Milliarden Euro kostet.

„Wir schaffen den Einstieg in den Pflegebedürftigkeitsbegriff und in die private kapitalgedeckte Vorsorge“, sagte Bahr. „Damit können die Menschen sicher sein, dass das Geld, das sie für ihre Pflege zurücklegen, auch dafür zur Verfügung steht.“

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte, trotz des Beitragsplus’ sänken die Sozialbeiträge insgesamt, da die Rentenbeiträge um 0,3 Prozentpunkte fielen.

Im Bundesgesundheitsministerium geht man davon aus, dass trotz Freiwilligkeit eine geförderte private Zusatzvorsorge breit angenommen werde. Dort verwies man darauf, dass es 16 Millionen Verträge für Riester-Rente und 18 Millionen für betriebliche Altersvorsorge gebe.

Zu Bahrs Plänen zählt laut seinem Ministerium, dass sich Pflegebedürftige auch dafür entscheiden können, dass ambulante Pflegedienste für eine bestimmte Dauer zu ihnen kommen. Auf bestimmte Leistungen sollen die Pfleger dann nicht festgelegt werden.

Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Manuela Schwesig (SPD) kritisierte den Kompromiss als ungenügend. „Aus den Verhandlungen der Koalition mit dem bisher so glücklosen Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr ist ein pflegepolitischer Offenbarungseid herausgekommen, der zeigt, dass die hoffnungslos zerstrittenen Koalitionäre weder Mut noch Kraft für tiefgreifende Reformen im Sinne der Pflegebedürftigen haben.“

Info: Der Koalitionsausschuss

Der Koalitionsausschuss ist das wichtigste Entscheidungsgremium für Streitfragen zwischen Union und FDP. Fast alle zentralen Beschlüsse oder Kompromisse der Koalition werden in dieser Spitzenrunde ausgehandelt. Am Sonntag traf sich der Ausschuss wieder unter der Leitung von Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel im Kanzleramt.

Der Runde gehören neun ständige Mitglieder an: Neben Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) sind dies die Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder (CDU/CSU) und Rainer Brüderle (FDP), CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt, Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU), Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sowie die Parteivorsitzenden – neben Merkel und Rösler also CSU-Chef Horst Seehofer. Je nach Tagesordnung stoßen dann noch Fachminister dazu.

Laut Koalitionsvertrag soll sich das Gremium mit „Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung“ befassen und in Konfliktfällen einen Konsens zwischen den Koalitionspartnern herstellen. Eigentlich soll sich der Ausschuss einmal im Monat treffen. Der monatliche Turnus wurde allerdings schon mehrfach durchbrochen, zum Beispiel weil nicht genügend Themen auf der Tagesordnung standen. Auch bevorstehende Landtagswahlen wurden schon als Grund für eine Absage herangezogen.