Erst gelingt Hartmut Richter (63 Jahre) eine spektakuläre Flucht, dann will er seine Schwester nachholen und landet für Jahre hinter DDR-Mauern.

Berlin. Es geht auf Mitternacht zu als der 18-jährige Hartmut Richter mit klopfendem Herzen die Stufen vor dem Schwarzen Adler heruntersteigt, einem Gasthof in dem brandenburgischen Nest Teltow vor den Toren Westberlins. Regenwolken hängen am Himmel, ein schwacher Wind schiebt sie vor den zunehmenden Halbmond. Perfekte Bedingungen. Es ist die Nacht, in der Richters zweites Leben beginnt. Es ist der 26. August 1966.

Mit zwei Freunden ist er zuvor im Schwarzen Adler gewesen. Zwei, die Bescheid wissen. "Entweder ich schaff das, oder die knallen mich ab", denkt Richter. Einen Fluchtversuch hat er schon hinter sich. Vor sieben Monaten griff ihn die Polizei im Zug auf, als er über die damalige CSSR nach Österreich wollte. Richter kommt für drei Monate ins Gefängnis. Noch mal soll ihm das nicht passieren.

Es ist eine merkwürdige Mischung aus Wut, Abschiedsschmerz und Angst, die er in der Nacht seiner Flucht zu verdrängen versucht. Wut auf das SED-Regime, die Trauer darüber, alles zurückzulassen, was er liebt. Die Furcht davor, die nächsten Stunden nicht zu überleben. In dunklem Hemd, Jeans und Pullover streift er durch das Gestrüpp am Ufer des Teltow-Kanals. Weiter, immer weiter muss er gehen. Und leise, still, damit ihn keiner hört. Dann beginnt der Stacheldraht und Richter taucht ins Wasser ein. Papiere und 800 Ostmark sicher verstaut in einem Plastikbeutel. Luft holen. Los.

Richter verschwindet unter der dunklen Oberfläche. So lange wie möglich, bis er Luft holen muss. Irgendwo bellt ein Hund. Wie weit ist es zum Westberliner Kontrollpunkt? Ein guter Kilometer vielleicht. Richter schwimmt weiter und friert. Immer wieder Pausen. Dann zwei Grenzsoldaten, oben auf einer Holzbrücke. Wieder tauchen, ganz tief, unter die dünnen Drähte hindurch, die bei jeder Berührung Alarm auslösen. Nach drei Stunden dann die Grenze. Ein Stacheldrahtzaun, mit Scheinwerfern angestrahlt. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr. Richter schwimmt ans rechte Ufer, wo noch ein bisschen Schatten ist, biegt die Stacheldrahtrolle auf dem Gitter auseinander und zwängt sich durch. Er weiß, dass er in diesen Sekunden für die Soldaten wie auf dem Präsentierteller liegt. Doch nichts passiert. Um halb vier morgens fällt Richter auf die andere Seite. In den Westen.

Sommer 2011. Richter trifft sich hier an der Bernauer Straße häufig mit den Menschen, die seine Geschichte hören wollen. Wenn Richter dort in dem kleinen Café auf einem der Plastikstühle sitzt, kann er sehen, wie auf der Straße die Tram vorbeizuckelt und die Autos fahren. Vor allem aber sieht er die Touristen, die hier Tag für Tag aus den Bussen strömen. An der Bernauer Straße in Berlin Mitte steht mit 170 Metern einer der längsten noch erhaltenen Abschnitte der Mauer. Es gibt ein großes Dokumentationszentrum, eine Aussichtsplattform und Schautafeln. Richter kennt diesen Ort gut. Am 13. August 1961 hat er hier mit seiner Cousine aus dem Fenster ihres Kinderzimmers geschaut, als die DDR mit dem Mauerbau begann. Heute steht er als Zeitzeuge vor Besuchern und Schülergruppen und erzählt, wie es damals war.

1966 nach seiner Flucht ist das Erste, was er sich kauft, eine Schachtel Zigaretten. Stuyvesant. "Der Duft der großen weiten Welt", hieß der Slogan damals - und genau das ist es, was Richter will. Weg, raus und endlich leben. Es zieht ihn nach Hamburg, von dort aus soll es weitergehen nach Australien. Sie hätten dort Jobs für junge Leute, die Englisch sprechen, hieß es. Junge Seefahrer nehmen ihn mit auf die Reeperbahn. St. Pauli, Rotlicht, Herbertstraße. Richter ist da 19 Jahre alt und bekommt einen roten Kopf, wenn ihn die Mädchen ansprechen. "Was willste in Australien, da ist doch nix los, da gibt's keine Frauen", sagen die anderen zu ihm. Also wird auch Richter Seefahrer und heuert im Hafen auf einem Handelsschiff an. Die Reeder wissen um seine Vergangenheit und nehmen ihn nur auf ungefährlichen Routen mit. Der gesamte Ostblock ist tabu, Kuba absolut heikel. Dafür geht's nach Japan. Hin mit einer Ladung Weizen, zurück mit Elektronik. Dann Südamerika, USA, Kanada. Das waren die guten Zeiten, die aufregenden. Davon hat Richter gezehrt, Jahre später, als man ihn im DDR-Gefängnis monatelang in die Isolationshaft steckte. Wenn er heute seine Führungen macht, sagt er nicht immer, dass er im Knast gesessen hat, und wenn, dann nur mit Ironie und Sarkasmus. Das schafft Distanz. "Und man soll auch mal lachen", sagt er. "Aber eigentlich ist das gar nicht zum Lachen."

Auch mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung findet Richter Gedenkstätten wie die an der Bernauer Straße wichtig. Für diejenigen, für die die Mauer nur ein Begriff aus dem Geschichtsbuch ist, für alle, die ohne Mauer gelebt haben und auch für die, denen sie noch immer in den Köpfen steckt. Deshalb erzählt er auch immer wieder seine Geschichte. Richter ist 63 Jahre alt, trägt Jeans, ein Karohemd, darüber eine graue Jacke, sein Haar hat er in die Stirn gekämmt. Der Berliner Akzent ist nicht zu überhören. Es ärgert ihn, sagt er, wenn sich Studenten in DDR-Uniformen an den Hotspots der Hauptstadt für Geld mit Touristen fotografieren lassen. "Gegen die ganze Verklärung muss man doch was machen."

Als die DDR 1972 allen Republikflüchtlingen die Staatsbürgerschaft aberkennt und sie damit einer strafrechtlichen Verfolgung entzieht, sieht Richter zum ersten Mal seine Eltern wieder. Dann wird er zum Fluchthelfer. Wegen des Transitabkommens dürfen die Grenzsoldaten nur in begründeten Verdachtsfällen Autos durchsuchen. Das nutzt er aus, schleust mehr als 30 Menschen in den Westen. "Nach jeder Tour habe ich mir gesagt, jetzt hörst du damit auf." Richter hatte damals einen Audi mit Rallye-Streifen auf der Motorhaube. 1975 steigen seine Schwester und ihr Verlobter in seinen Kofferraum. Warum ihn der Grenzer an diesem Tag rausgewinkt hat, weiß Richter bis heute nicht. Er muss in eine Garage fahren, zehn Soldaten mit Maschinenpistolen stehen darin. Die Sache fliegt auf. Richter wird an die Wand gestoßen, Beine breit, Arme hoch. "Schießt doch, ihr Verbrecher", schreit er.

Richter hat ein gutes Gedächtnis. Er erinnert sich noch heute an kleinste Details, an Gerüche und an die Sätze, die man ihm in der Nacht seiner Verhaftung entgegenschleudert. Daran, dass "Esst mehr Fisch" auf dem Lieferwagen steht, mit dem sie ihn abtransportieren. Nach einem Jahr in Untersuchungshaft in Potsdam wird er wegen "staatsfeindlichen Menschenhandels" zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Höchststrafe. "Die Stasi hat versucht, uns mit ganz subtilen Methoden kaputt zu machen. Haben daraus eine regelrechte Wissenschaft gemacht", sagt Richter. Wenn er "uns" sagt, dann meint er sich und die anderen Häftlinge. Tatsächlich aber ist er viel allein. Isolationshaft, monatelange Informations- und Kontaktsperren. In Hohenschönhausen und dann in Rummelsburg muss er lernen, dass Stille Folter sein kann. Hartmut Richter rebelliert, malt Flugblätter, isst nicht mehr. "Die dachten, ich zettel 'ne Revolte an." Dann Zwangsernährung, Gummiknüppel, Psychopharmaka. Man schickt ihn in den "Stasi-Knast", nach Bautzen II. Alles geht von vorne los. 1980 kauft ihn die Bundesrepublik frei. Nach fünf Jahren und sieben Monaten wird er entlassen.

Und dann, draußen, erträgt er auf einmal die Nähe anderer Menschen nicht. Viele Freunde sind weg, die Wohnung auch. Richter fängt an, Flugblätter über die Mauer zu werfen. "Damit die da drüben die Hoffnung nicht verlieren." Mit einer Aktion schafft er es 1983 bis auf den Titel der "BZ", eines Berliner Boulevardblatts. Nach der Wiedervereinigung prozessiert er elf Jahre durch alle Instanzen, um seinen bei der Flucht beschlagnahmten Audi wiederzubekommen. Am Ende gab es 1000 Euro Entschädigung. Heute ist Richter "im Unruhestand", wie er es selber nennt. Mit seiner Frau ist er jetzt seit zehn Jahren verheiratet, lebt in Charlottenburg und fährt immer wieder nach Hamburg, wenn in Berlin sein Blutdruck steigt. "Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, wär ich dageblieben."

Richter lehnt sich in seinem Plastikstuhl zurück und sortiert seine Gedanken. Der Mensch ist ein Produkt seiner Umwelt, sagt er. Das ist so etwas wie sein Glaubenssatz. Er tut, was er tut, weil alles, was er erlebt hat, ihm heute keine andere Wahl lässt. Deshalb kehrt er auch heute immer wieder in die Stasi-Gefängnisse zurück, um auch hier die Menschen durch seine Geschichte und die der DDR zu lotsen. "Ich will einfach nicht, dass man den Privilegierten von damals die Deutung überlässt", sagt er. Also muss er reden.