Seit den späten 70er-Jahren wurde die Berliner Mauer beschriftet und bemalt. Die Hamburgerin Elke Dröscher fotografierte sie als eine der Ersten.

Hamburg. Sommer 1980. Drei Wochen lang streift eine junge Hamburgerin durch West-Berlin. Elke Dröscher begleitet ihren damaligen Ehemann, den renommierten Fotografen Robert Lebeck. Er hat einen dienstlichen Auftrag zu erledigen, sie hat Zeit. Die nutzt sie, um die Stadt zu Fuß zu erkunden. Immer wieder stößt sie bei ihren Streitzügen auf die Mauer, an deren Betonflächen sie Sprüche, Bilder, Graffiti entdeckt.

Das ist damals neu, wie auch diese Mauer neu ist. Denn zwar stehen die Sperranlagen bereits seit dem 13. August 1961, sie haben sich aber in den folgenden Jahren stetig verändert. Aus einer Stacheldrahtsperre ist ein massiver Wall geworden, den die Ostberliner Machthaber immer weiter verstärken. Die Mauer, vor der Elke Dröscher 1980 steht, ist höher, gefährlicher und kaum noch zu überwinden.

Die riesige schmutzig-graue Fläche ist zwar für die Westberliner von Anfang eine Provokation und zugleich eine Herausforderung, sie zu gestalten - nur ist das auf der Mauer der frühen Jahre noch nicht möglich: Sie ist viel zu zerklüftet und porös, um bemalt zu werden und so als Projektionsfläche für Protest, Wut, Witz oder Kunst dienen zu können. In den 1970er-Jahren muss der Maler Frank Liefeoghe daher noch Spanplatten für ein Kunstwerk verwenden, das er an der Sperranlage anbringt, was die Westberliner Polizei jedoch nicht duldet. Die Beamten entfernen die bemalten Platten schon bald.

Erst ab 1976 errichten die DDR-Grenztruppen die vierte Generation der Mauer, die bis zur Rohrauflage 4,10 Meter hoch ist, 40 Zentimeter höher als das Vorgängerbauwerk. Neuartig sind auch die glatten Flächen der industriell hergestellten Betonteile - und die eignen sich nun erstmals gut für Bemalungen und die ersten Graffiti.

Elke Dröscher entschließt sich, diese zu dokumentieren. Sie bittet Robert Lebeck, ihm eine seiner Nikon-Kameras zu leihen, dann geht sie los, immer an der Mauer entlang, und fotografiert, stundenlang, tagelang, insgesamt fast drei Wochen. Die Bilder, die entstehen, erscheinen später auf einer Doppelseite im "Stern", werden aber sonst nie veröffentlicht. Nur in einer privaten Dokumentation hat die Galeristin, die heute in der berühmten Karl-Schneider-Villa am Falkensteiner Ufer das Puppenmuseum betreibt, die inzwischen historischen Mauerbilder im A4-Format zusammengestellt.

"Ich war ja keine professionelle Fotografin, obwohl ich das Handwerk gelernt und auch zwei Bildbände zum Thema Puppen- und Puppenstuben mit eigenen Fotos publiziert hatte. Aber die Mauer-Graffiti faszinierten mich damals sehr, vor allem aufgrund ihres enormen Spektrums. Ich bekam ein Gespür dafür, wie sich die Menschen an diesem Monstrum buchstäblich abarbeiteten", sagt Elke Dröscher über die frühe Phase der Bemalung.

Die Mauerkunst hat Zeit gebraucht, sich zu entwickeln. "Damals waren noch viele Flächen frei, es gab auch nur wenige aufwendigere künstlerische Gestaltungen, dafür aber viele Sprüche und Zeichen, die ganz unmittelbar Wut, Trauer und Protest zum Ausdruck brachten", sagt sie.

"DDR = KZ" steht auf dem nackten Beton, auf einigen von Dröschers Bildern sind aber auch Sponti-Sprüche zu sehen und politische Forderungen, die sich nicht auf die Mauer, sondern die bundesdeutsche Innenpolitik beziehen. "Freiheit für die Kommandos" mit dem RAF-Symbol ist da zu sehen, aber auch "Heil Honecker". Ein Kreuz erinnert an den 18-jährigen Paul Schultz, der zu Weihnachten 1963 als "Republikflüchtling" erschossen wurde. "Socialist Paradise - 100 Meter" steht da mit einem gen Osten zeigenden Pfeil, hinter grellgelb blühenden Senfpflanzen kann man "Die Revolution lässt sich nicht verurteilen" erkennen. Das Logo der Moskauer Olympiade hat jemand mit einem Hakenkreuz versehen, "Werbefläche zu vermieten!!!", ist ebenso zu lesen wie "Scheiss BRD" und "Amis raus".

Manches ist witzig, manches kryptisch, anderes läppisch. Politische Schlagwörter und Symbole werden aufgemalt und manchmal später durchgestrichen. Am Anfang, das belegen Elke Dröschers Bilder, überwiegt die Schrift, erst im Lauf der 1980er-Jahre kommen mehr Bildelemente hinzu. Die Mauer ist zwar von Westberliner Seite aus frei zugänglich, befindet sich aber eingerückt auf DDR-Territorium. Diejenigen, die den "Antifaschistischen Schutzwall", wie das Bauwerk DDR-offiziell genannt wird, bemalen, sind für Ost-Berlin "Grenzverletzer". Verhindern können die Grenztruppen die Graffiti nicht, nachdem sie die Malereien anfangs noch mühsam entfernt haben, kapitulieren sie später.

Einmal hat Robert Lebeck selbst zur Kamera gegriffen und Elke Dröscher bei der Arbeit fotografiert. Das von einem erhöhten Standort aufgenommene Bild zeigt eine junge rothaarige, ganz in schwarz gekleidet Frau vor dem Hintergrund der noch spärlich mit Graffiti überzogenen Mauer.

In den späten 1980er-Jahren hat sich das Symbol für die Trennung Deutschlands zu einer einzigartigen Freiluft-Galerie entwickelt. Die DDR-Bürger kennen die bunten Mauer-Graffiti nur vom Hörensagen, sehen können sie sie erst ab dem 9. November 1989. Und auch nur für kurze Zeit, denn bald darauf beginnen die "Mauerspechte" ihr Werk, und schon nach wenigen Monaten, nachdem auch die NVA mit schwerem Gerät eingegriffen hat, ist Europas monströsestes Bauwerk wie vom Erdboden verschluckt.

Das kann sich Elke Dröscher im Sommer 1980 kaum vorstellen.