Ein Jahr nach ihrer Alkoholfahrt spricht die ehemalige EKD-Vorsitzende über brutale Öffentlichkeit und, natürlich, über Rücktritte.

Goldene Initialen blitzen an ihrer Lederhandtasche: "MK": Hat die Pfarrerin ein eigenes Modelabel gegründet? "Nein", sagt Margot Käßmann, "die Tasche habe ich in New York gesehen und musste zugreifen." Ein attraktives Markenzeichen scheint die 52-Jährige dennoch zu sein: Seit sie vor einem Jahr mit 1,5 Promille Alkohol im Blut am Steuer erwischt wurde und schnörkellos von ihrem Amt als Landesbischöfin zurücktrat, finden ihre Bücher und Auftritte gesteigertes Interesse. In der Debatte um den Rücktritt des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg fiel ihr Name oft als positives Beispiel dafür, wie man schnell handelt. Auf die Plagiats-Affäre angesprochen, zögert sie mit Bewertungen. Sie weiß zu genau, wie das ist, wenn das ganze Land über die eigene Verfehlung spricht. Käßmann wirkt frisch, sie schaut in den Garten eines kirchlichen Stadthauses in Ottensen. Und redet lieber über Entschleunigung.

Hamburger Abendblatt: Frau Käßmann, sind gestresste Menschen oft skrupellos?

Margot Käßmann: Das denke ich nicht. Menschen, die unter Stress stehen, haben meist hohe Verantwortung und sind sich bewusst, welche Folgen ihre Entscheidungen haben können. Skrupellos bedeutet für mich, wenn jemand Macht für eigene Zwecke missbraucht und das nicht transparent macht.

Nach Ihrer Alkoholfahrt haben Sie über die hohe Arbeitsbelastung geklagt. War Ihr Rücktritt eine Maßnahme zur Entschleunigung?

Käßmann: (lacht): Das hieße ja, ich hätte bewusst diesen Fehler gemacht. So war es nicht. Aber ich war wohl durch den hohen Druck fehleranfälliger.

Was verliert man aus dem Blick, wenn man im Wettbewerb steht?

Käßmann: Bei aller Disziplin geht manchmal die Spontaneität verloren, es fehlen Gelassenheit und Zeit, Neues zu denken, und Zeit für die Seele. Manchmal habe ich im Kalender zwei freie Stunden gesucht - und in fünf Monaten nicht gefunden. Morgens um halb sieben, beim Spazierengehen mit dem Hund, habe ich E-Mails beantwortet. Barack Obama macht morgens um fünf Uhr Sport. Die Kanzlerin ist ständig präsent. Ich bewundere alle, die das Pensum schaffen.

Der Wettbewerb ist hart. Ist der zurückgetretene Minister zu Guttenberg auch Opfer dieses Drucks, weil er mit seiner Promotion eine Arbeit leisten wollte, für die er keine Zeit hatte?

Käßmann: Niemand ist Opfer in diesen Positionen. Der Mensch entscheidet sich auch frei zu einer Promotion. Ich hoffe, dass sich Politiker um der Sache willen entscheiden, weil sie für etwas einstehen. Jeder hat die Freiheit zu sagen, ich übernehme gern Verantwortung, aber es gibt auch eine Grenze.

Ist es gefährlich, wenn ein Politiker mit einem überfüllten Terminkalender lebt?

Käßmann: Ja, wenn es keine Zeit mehr gibt, sich zusammenzusetzen und zu fragen: Wo sind wir und welche Lösungen brauchen wir? Ein Beispiel sind die galoppierenden Entscheidungen während der Finanzkrise. Ich meine, wir brauchen eine Entschleunigung in der Politik. Handeln auf Druck lässt keine Freiräume zum Nachdenken.

Das ist doch Wunschdenken, tatsächlich wird alles doch immer schneller. Das beweist doch auch der Fall zu Guttenberg.

Käßmann: Das ist ein gesellschaftliches Problem, der Kommunikationsdruck ist immens. SMS müssen sofort beantwortet werden. Mails am besten auch. Da freut man sich über einen Transatlantikflug, bei dem man acht Stunden das Handy ausschalten muss.

Sie selbst haben das mitgemacht. Beispiel Dissertation, die haben Sie 1989 abgelegt, als Sie schon drei kleine Kinder hatten. Wird das verlangt, um Spitzenämter zu bekleiden?

Käßmann: Bei mir war es so, dass ich Zwillinge bekam in Spieskappel in Hessen. Mein Mann hatte eine volle Pfarrstelle, ich zunächst keine Stelle. Ich war glücklich mit meinen drei Kindern, aber mir fehlte etwas. Auf dem Dorf gab es nicht mal einen Laden. Das war ein Selbstantrieb, kein gesellschaftlicher Druck. Ich war im Ökumenischen Rat der Kirchen aktiv und habe das mit meiner Doktorarbeit untermauert. Mit meinem 600-Mark-Stipendium habe ich eine Tagesmutter bezahlt und jeden Tag von acht bis zwölf Uhr in der Besenkammer des Pfarrhauses an meiner Doktorarbeit gesessen. Das war eine schöne Zeit, weil die Work-Life-Balance gestimmt hat. Das war am Ende meiner Bischofszeit vielleicht nicht mehr so.

Und wenn der Druck plötzlich weg ist?

Käßmann: Der Verlust der Macht hat bei mir nicht das Gefühl der Ohnmacht ausgelöst, sondern eher das Gefühl von Freiheit. Ich habe fast 20 Jahre in leitender Stelle gearbeitet. An meinem 52. Geburtstag bin ich aufgewacht und habe gedacht: Deine Kinder sind aus dem Haus, du weißt nicht, wo du arbeiten und wohnen wirst. Das war für mich neu. Aber ich war gern Ratsvorsitzende und sollte den Wechsel gestalten; die erste Frau an der Spitze. Das macht mir immer noch ein schlechtes Gewissen. Aber für mein persönliches Leben ist es absolut keine Katastrophe.

Brauchen wir eine Debatte über überbordenden Leistungsdruck?

Käßmann: Burnout ist das Symptom, dass viele Menschen keinen Rhythmus zwischen Schaffen und Ruhen finden. Beispiel sind die Sonntagsöffnungszeiten. Für mich zeigt sich daran, dass auch die Gesellschaft keinen Rhythmus mehr hat. Wenn alle Tage gleich sind, gibt es keine Entschleunigung mehr. Die Frage ist doch: Was ist Lebensqualität?

Hätten Sie diese Frage auch vor Ihrem Rücktritt gestellt?

Käßmann: Ja, aber vor allem als ich die Krebs-Erkrankung hatte. Das bin ich eine Woche allein weggefahren, erstmals seit Langem. Und das hat mir sehr klargemacht, wer bin ich und was will ich.

Ist die Öffentlichkeit zu brutal?

Käßmann: Nachrichten sind ein beschleunigter Markt. Als ich in Wildbad Kreuth zur CSU kam, sollte ich schon bei der Ankunft auf eine Einladung von Herrn zu Guttenberg nach Afghanistan reagieren, da hatte er mich aber noch gar nicht einladen können. Im Rückblick würde ich mich nicht mehr so hetzen lassen. Mein Leben hängt nicht an so einem Amt. Das habe ich auch gespürt, als ich vor der Presse meinen Rücktritt erklärt habe.

Ist das ein Grund für die vielen Rücktritte im vergangenen Jahr: von Roland Koch bis Ole von Beust?

Käßmann: Wir müssen aufpassen. Wenn engagierte Menschen sagen, der Preis ist mir zu hoch, müssen wir uns fragen, wer überhaupt noch Verantwortung übernehmen will. Ich bin übrigens der gleiche Jahrgang wie Roland Koch. In diesem Alter ist es reizvoll, sich vorzunehmen, künftig ganz am Inhalt zu arbeiten. Ohne ständigen Druck.

Öffentlichkeit hat auch positive Seiten: Ihre Bücher sind Bestseller, Ihre Gottesdienste voll, zu Ihrer ersten Vorlesung in Bochum kamen 1800 Zuhörer. Was sehen die Menschen in Ihnen?

Käßmann: Ich bekomme viele Briefe und E-Mails von Frauen mittleren Alters. Vielleicht verkörpere ich, was sie selber erleben: Die Kinder verlassen das Haus, die Eltern werden alt, Krankheit schlägt zu, ein Freund stirbt, Ehen geraten in Krisen. Das sind die Lebensthemen, die öffentlich selten stattfinden.

Mit dem Rücktritt ist Ihre Anziehungskraft offenbar noch gestiegen ist. Weil Sie sich moralisch verhalten und Konsequenzen gezogen haben?

Käßmann: Ich bin nicht zurückgetreten, um Maßstäbe zu setzen. Mir ging es nur darum: Ich muss hier durch, und zwar erhobenen Hauptes. Menschen, die selbst Fehler gemacht haben, haben sich mit mir identifiziert. Jeder konnte nachvollziehen, dass es kein schönes Gefühl ist, wenn dein Fehler überall diskutiert wird, beim Friseur, in der Kneipe, am Esstisch. Vielen hat auch geholfen, dass ich gesagt habe: Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.

Ist Ihnen das nicht unheimlich, so viel Aufmerksamkeit?

Käßmann: Mir ist klar, dass das auch Projektion ist. Ich bin keine Kultfigur. Ich kann dem, was manche in mir sehen, gar nicht gerecht werden.

Ist die Kirche die Institution, die da helfen muss?

Käßmann: Die Kirche ist der Ort, der zeigt, dass noch anderes wichtig ist im Leben als schaffen, raffen, Geld verdienen. Man muss sich doch fragen: Was mache ich eigentlich und wofür? Es gehen nicht weniger Menschen in Gottesdienste, weil sie keine Zeit haben, sondern weil sie die Sehnsucht verloren haben. Wie Antoine de Saint-Exupéry sagte: Wenn du ein Schiff bauen willst, kümmere dich nicht um Werkzeuge und Holz. Sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem Meer.

Sie wollen sich auch politisch weiter einmischen. Ihre erste Vorlesung war ein Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft.

Käßmann: Was heißt einmischen? Ich habe ja kein öffentliches Amt mehr. Ich werde im Rahmen meiner Gastprofessur sozial-ethische Fragen aufgreifen. Es ging um Integration.

Viele sehen durch den Koran unsere westliche Ordnung gestört.

Käßmann: Ich bin keine Islamwissenschaftlerin. Aber ich denke, dass wir Imame brauchen, die in Deutschland aufgewuchsen und ausgebildet wurden. Vieles ist auch ein Verständnisproblem. Auf der anderen Seite ist auch völlig unverständlich, dass jetzt, wo islamische Länder nach Freiheit rufen, die Europäer Angst haben, dass es zu viel wird.

Vor einem Jahr haben Sie mit dem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" eine politische Debatte ausgelöst. Gerade hat der Bundestag das Bundeswehr-Mandat verlängert. Frustriert Sie das?

Käßmann: Nein, das ist nicht frustrierend. Aber es zeigt mir, dass es gut war, mit diesem Satz - der ja aus einer Predigt herausgelöst wurde - eine Debatte auszulösen. Inzwischen spricht sogar die Bundeskanzlerin von Krieg ...

... und auch der zurückgetretene Verteidigungsminister.

Käßmann: (nickt): Ich glaube, dass die Dünnhäutigkeit, mit der auf meinen Satz reagiert wurde, ein Zeichen dafür ist, dass da etwas ungeklärt war. Damals war ich sehr erstaunt über die Reaktion. Heute sage ich, wann hat schon eine Predigt von mir so viel Effekt gehabt.

Werden Sie nach Afghanistan reisen. Es gab ja eine Einladung .

Käßmann: Als was sollte ich fahren. Margot Käßmann als Touristin? Wenn eine Entwicklungshilfeorganisation mich einladen würde, ihr Projekt zu besuchen, würde ich es machen.

Anderes Thema: Nach Ihrem Rücktritt ist ein Mann Bischof in Hannover geworden. In Hamburg ist die Besetzung nach dem Rücktritt von Maria Jepsen noch offen. Muss es eine Frauenquote für Bischöfe geben?

Käßmann: Ich bin selbst durch eine Quote in den Ökumenischen Rat der Kirchen gekommen. Und es ist belegt, dass sie in anderen Ländern etwas verändert hat. Ich bin ziemlich überzeugt.

Vermissen Sie etwas in Ihrem Leben nach dem Bischofsamt?

Käßmann: Nein, eigentlich nicht. Oder doch. Die Festgottesdienste auf dem Land. Wenn die Kirche voll ist, die Orgel erklingt und die Menschen sich freuen, dass ihre Landesbischöfin gekommen ist. Das ist Protestantismus "at it's best". Das vermisse ich.