Frank-Walter Steinmeier nahm eine politische Auszeit, um seiner Frau eine Niere zu spenden. Sein Leben ist jetzt ein anderes.

Berlin. Man sieht ihm nicht an, dass ihm etwas fehlt. Schlanker ist er geworden, das erkennt man. Aber da man weiß, was geschehen ist, sucht man unweigerlich nach einem Makel, nach einer Kränklichkeit in dem Gesicht, in der Haltung, im Gang dieses Menschen. Man findet nichts. Frank-Walter Steinmeier sieht kerngesund aus.

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag ist ein höflicher Mensch. Er erduldet es, dass man nach einer ganzen Reihe politischer Fragen nun auch Privates von ihm wissen möchte. Der 54-Jährige sitzt an einem kleinen Konferenztisch in seinem Bundestagsbüro. Er lehnt sich zurück, schaut dem Flockenwirbel vor seinem Fenster zu, dann beginnt er zu erzählen. "Ich habe damit gerechnet, dass es ein schweres Jahr werden würde. Ich dachte, es würde schwer werden wegen des Wahlergebnisses, wegen der neuen Oppositionsrolle, wegen meiner neuen Aufgabe. Dass das Jahr aber so schwer werden würde, und das aus ganz anderen Gründen, damit habe ich nicht gerechnet."

Seit dem 24. August dieses Jahres fehlt Steinmeier eine Niere. Seine Frau Elke Büdenbender, 48, trägt sie in sich. Er kennt sie seit dem gemeinsamen Jurastudium, seit 15 Jahren sind sie verheiratet. Gemeinsam haben sie eine Tochter. So ein Jahr wie dieses haben sie noch nicht erlebt. Es war ein Jahr, in dem es ein Davor und ein Danach gab.

Wenn Steinmeier über das Davor berichtet, lässt er erahnen, wie er mit seiner Frau gelitten hat, über Monate hinweg. Und er lässt einen Einblick zu in eine Welt, in der man eigentlich nicht mal eben eine Auszeit nehmen und das Private dem Politischen vorziehen kann. Als im Sommer klar war, dass er selbst seiner an einer fortgeschrittenen Nierenerkrankung leidenden Frau helfen könne, musste er schweigen. "Die Phase bis zur Operation war eine Grenzbelastung. Und das sage ich als jemand, der Belastungen gewohnt ist. Wir haben bis zur Operation unsere Berufe mit vollem Einsatz weitergemacht."

Ein halbes Jahr vor der Operation war das Leben Steinmeiers schon nicht mehr dasselbe. "Meine Frau und ich waren ab Ende Februar mit der Frage beschäftigt, ob es Heilungsmöglichkeiten gibt. Erst nachdem völlig aussichtslos war, dass meine Frau auf der Warteliste nach vorne rücken würde, haben wir uns mit den Alternativen befasst, zum Beispiel mit der Lebendspende. Auf mich kam damit auch die Frage zu: Würdest du auch selbst spenden? Es war nie eine schwierige Entscheidung für mich." Trotzdem war nicht von Beginn an klar, ob es funktionieren würde.

"Das waren Monate von Unsicherheit und Angst", sagt Steinmeier. "Aber man wächst in und mit so einer Situation. Am Ende empfindet man die Spende des Organs nicht als übergroßes Risiko oder fast und erst recht nicht als Heldentat. Sondern ich habe großes Glück empfunden, als die Nachricht kam: Medizinisch steht der Organübertragung nicht mehr im Wege." Erst als er gewusst habe, dass es so funktionieren würde, sei er sich auch über die Folgen klar geworden: "Krankenhaus, Operation, mehrere Wochen Abwesenheit. Was würde das für die Öffentlichkeit bedeuten? Ich musste mich auch fragen, wie ich das längere Fehlen darstelle. Ich wollte nicht, dass die Öffentlichkeit über einen Herzinfarkt oder eine Krebserkrankung spekuliert. Deswegen haben wir uns vor der Operation der Öffentlichkeit gestellt."

Einen Tag vor der Operation wandte sich der SPD-Politiker an die Medien. Der Zustand seiner schwer kranken Frau habe sich verschlechtert, sie brauche eine neue Niere - und er werde der Spender sein, erklärte er. Von der einen auf die andere Sekunde war die politische Routine dahin. Dem Streit über Rente und Wehrpflicht folgten Bangen und Hoffen um den Fraktionschef und seine Frau. Niemand konnte ahnen, wie schwer die Operation sein würde, welche Konsequenzen sie haben könnte. Wie ernst die Lage war, konnte man zunächst nur Steinmeiers Ankündigung entnehmen, erst im Oktober in den politischen Betrieb zurückzukehren. Am Ende seines Statements versicherte er lächelnd: "Wir sehen uns ja dann bald wieder." Heute gibt der frühere Kanzlerkandidat zu, dass er sich fürchtete. "Um mich hatte ich keine Angst. Aber natürlich habe ich mir Gedanken über meine Frau gemacht."

Die Politik schien an diesen späten Augusttagen sehr fern, und doch wurde Steinmeiers Auszeit zu einem Politikum. Die Partei spürte, dass er fehlt. Die Zweifler, die nach dem Wahldebakel im September 2009 den Ex-Außenminister als Fehlbesetzung im Fraktionsvorsitz betrachtetet hatten, schwiegen. Sein dienstältester Vize Joachim Poß übernahm den Fraktionsvorsitz kommissarisch - und die SPD wartete.

Die Transplantation in der Berliner Charité glückte, die Politik wandte sich dem Tagesgeschäft zu. Für das Ehepaar Steinmeier begann die Zeit des Danachs, zuerst in einer Reha-Klinik. "Die zwei Monate Pause waren notwendig, um zueinanderzufinden und zu neuen Kräften zu kommen." Und es kam Hilfe von außen. "Mit der großen Sympathiewelle habe ich nicht gerechnet. Es hat mich gefreut, dass es über die Parteigrenzen ein großes Maß an Anteil gab", sagt er. Bewegend habe er die vielen sehr persönlichen Reaktionen gefunden. "Der eine schrieb, er habe eine Kerze aufgestellt, ein anderer, er habe für mich gebetet, viele schickten Worte der Anteilnahme und Genesungswünsche. Darunter berührende Zeilen von Menschen mit ähnlichem Schicksal."

Dass Krankheiten Politiker menschlicher erscheinen lassen, war ein Satz, der nach der Operation öfter zu hören war. Steinmeier schnellte in den Beliebtheitsumfragen auf Platz zwei. In der SPD gilt er wieder als potenzieller Kanzlerkandidat 2013. Der Betroffene will sich damit noch nicht beschäftigen. Seit seiner Rückkehr in den Bundestag macht er manches anders als früher. Nicht politisch, sondern grundsätzlich. "Der längere Abstand von der Politik hat gut getan, um einen ruhigeren Blick auf das eigene Tun zu werfen. Ich gehe heute bewusster mit meinen Terminen um. Ich sortiere stärker, was wichtig und was weniger wichtig ist." Auch Elke Büdenbender geht es wieder gut. Noch ist sie in der Erholungsphase. Vor Kurzem hatte sie ihren ersten öffentlichen Auftritt.

Noch etwas ist anders an diesem Danach in Steinmeiers Leben. Er ist nun Deutschlands bekanntester Organspender. Er nutzt den Status, um damit Politik zu machen. Er möchte die Bürger dazu verpflichten, sich grundsätzlich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden. Mit seinem Beispiel will er den Menschen die Angst davor nehmen. "Ich habe mich frühzeitig erkundigt, habe Ärzte befragt und ungeheuer viel gelesen über die Lebendtransplantation." Für einen Moment, ganz zum Schluss, weicht der Ernst aus seinem Gesicht "Ich wusste: Es gibt genügend Menschen, die mit nur einer Niere alt werden. Das habe ich auch vor." Worte, die vor einem Jahr noch undenkbar schienen, damals, als Steinmeier vor allem ein Wahlverlierer war. Heute gilt er vielen als Mutmacher. Wofür ein so schweres Jahr manchmal gut sein kann.