Bundeskanzlerin Angela Merkel legt sich fest: Trotz guter Wirtschaftsdaten im zweiten Quartal wird es keine raschen Steuersenkungen geben.

Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bleibt unbeugsam. Rasche Steuersenkungen wird es trotz des Aufschwungs nicht geben. "Wir haben nicht mehr Geld, sondern höchstens ein bisschen weniger Schulden", sagte der neue Regierungssprecher Steffen Seibert gestern in Berlin. Die Kanzlerin und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) hätten morgens miteinander telefoniert und seien sich "einig, was jetzt Priorität hat, und das ist die Haushaltskonsolidierung". Die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung mache den Sparkurs nicht überflüssig. Die Regierung werde ihren Sanierungskurs umsetzen und dabei "nicht nach links oder rechts gucken".

Tatsächlich aber hat die überraschend starke Konjunkturerholung im zweiten Quartal zu neuen Begehrlichkeiten bei den Liberalen geführt. FDP-Chef Westerwelle hatte die Debatte am Wochenende mit der Forderung belebt, die "Aufschwungsdividende" müsse an diejenigen weitergegeben werden, die sie erwirtschaftet hätten. Für die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger sind eine solide Haushaltspolitik und eine gerechte Steuerpolitik zwei Seiten derselben Medaille. "Es bleibt nach wie vor das Ziel der FDP, das Steuerrecht grundlegend zu vereinfachen und die Mitte noch in dieser Legislaturperiode zu entlasten", sagte Homburger dem Hamburger Abendblatt. "Die Vereinfachungen will die FDP im Herbst auf den Weg bringen. Die nötigen Spielräume für die Entlastung der Mitte werden wir uns durch eine kluge Haushaltspolitik erarbeiten. Sollte dies schneller möglich sein als erwartet, ist das eine gute Nachricht für die Steuerzahler in diesem Land."

Laut Statistischem Bundesamt hat die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal mit 2,2 Prozent gegenüber dem Vorjahres-Quartal so stark zugelegt wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hält übers Jahr gesehen sogar ein Wachstum von drei Prozent oder mehr für möglich.

Beim kleineren Koalitionspartner wächst bereits das Misstrauen, die Union könnte vorhaben, den neuen finanziellen Spielraum für die Erhöhung der Sozialleistungen zu nutzen, anstatt Bürger und Unternehmen deutlich zu entlasten. Otto Fricke, der haushaltspolitische Sprecher der Liberalen, warnte deshalb davor, denselben Fehler zu machen wie die Große Koalition 2006. "Auch damals sprudelten die Einnahmen überraschend, und prompt wurden die Ausgaben erhöht", sagte Fricke dem Abendblatt. "Davor sollten wir uns dieses Mal hüten." Aus München hieß es ebenfalls, die Haushaltskonsolidierung habe höchste Priorität. "Die schnellere konjunkturelle Erholung darf uns nicht dazu verleiten, das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt weiter vor uns her zu schieben", erklärte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. Ein ausdrückliches Nein zu Westerwelles Forderung nach niedrigeren Steuern kam von Dobrindt allerdings nicht. Die Abflachung der kalten Progression bleibe weiterhin auf der Tagesordnung, sagte der CSU-Politiker.

Das Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI mahnte die Koalition unterdessen, die Sparbemühungen nicht erlahmen zu lassen. Der überraschend starke Aufschwung komme der Bundesregierung entgegen, dürfe aber nicht neue Begehrlichkeiten wecken, sagte der RWI-Experte für Öffentliche Finanzen, Rainer Kambeck. Zumal das Sparpaket der Bundesregierung noch "einige Luftbuchungen" enthalte. Ursprünglich hatte die Bundesregierung damit gerechnet, in diesem Jahr 80,2 Milliarden Euro neue Schulden machen zu müssen, um die Ausgaben des Bundes zu finanzieren. Mittlerweile geht sie von 65 Milliarden Euro aus, Optimisten rechnen mit noch weniger. "So wie die Prognosen für die Steuereinnahmen derzeit aussehen, ist eine Neuverschuldung von unter 60 Milliarden Euro ein nicht unrealistisches Ziel", sagte der haushaltspolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Norbert Barthle.

Aus Sicht der Opposition ist es allerdings völlig unangemessen, von einer neuen Lage zu sprechen. Es bleibe bei einer nie da gewesenen Rekordverschuldung, erklärte die Mittelstandsbeauftragte der Grünen-Fraktion, Christine Scheel. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat Forderungen nach Steuersenkungen als "empörend" bezeichnet. "Kaum läuft die Wirtschaft etwas besser, wollen Westerwelle und seine FDP schon wieder Steuergelder verschleudern", sagte er der "Frankfurter Rundschau". Und der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Joachim Poß verwies auf die Schuldenbremse.