Ex-Bundesinnenminister hatte keinen terroristischen Hintergrund vermutet. Er trage die Verantwortung, dass man dem NSU nicht auf die Spur kam.

Berlin. Er kam nicht aus der Deckung, sondern meldete sich aus dem Ruhestand zu Wort: Mit Otto Schily hat sich der erste Innenminister in Deutschland öffentlich zu seiner Verantwortung im Fall der Zwickauer Terrorzelle bekannt. Seine Einlassung kam überraschend.

Schilys Schuldgeständnis im Interview mit dem „Tagesspiegel“ ist klar und unmissverständlich: „Dafür, dass wir der NSU-Terrorgruppe nicht früher auf die Spur gekommen sind, tragen ich und die Länderinnenminister die politische Verantwortung.“ Der SPD-Politiker war von 1998 bis 2005 Bundesinnenminister. In dieser Zeitspanne ermordete das Tätertrio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, sieben Menschen. Danach sollten noch drei weitere Tote hinzukommen.

Als Minister hatte Schily den Ruf des Law-and-Order-Manns, gerade in der Zeit nach den Anschlägen des 11. September 2001. So boxte er damals Sicherheitsgesetze durch, mit denen Attentate von Islamisten wie in den USA verhindert werden sollten. In Deutschland war man besonders alarmiert, denn die Terroristen hatten ihre Aktionen von Hamburg aus geplant. Hier könnte ein Grund für das Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden zu finden sein: Die Ermittler legten ihren Fokus nach der grausamen Flugzeug-Attacke besonders auf den islamistischen Terrorismus. Dies hat womöglich ihren Blick auf das rechte Spektrum, die Neonazi-Szene, beeinträchtigt

Der Bombenanschlag von 2004

Erst im November 2011 war das Tätertrio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos aufgeflogen. Bis dahin hatte kein Ermittler einen Zusammenhang hergestellt zwischen den untergetauchten Neonazis, den von ihnen verübten Banküberfällen und Anschlägen sowie den Morden an neun Ausländern und einer deutschen Polizistin. Dabei hat es nach heutigen Erkenntnissen zahlreiche Mosaiksteinchen gegeben, die – den richtigen Riecher vorausgesetzt – durchaus ein Gesamtbild hätten ergeben können.

Noch heute erinnert sich Schily sehr genau daran, wie er nach dem Bombenanschlag in Köln im Juni 2004, bei dem 22 Menschen verletzt wurden, in aller Öffentlichkeit sagte, es gebe keinen terroristischen Hintergrund. Jetzt gibt er unumwunden zu: Das war ein „schwerwiegender Irrtum“.

Schily schweigt also nicht, er bekennt sich. Von seinen Nachfolgern im Amt des Bundesinnenministers, die alle noch politisch aktiv sind, war bisher nichts dergleichen zu hören: Wolfgang Schäuble ist heute Finanzminister, Thomas de Maizière Verteidigungsminister (beide CDU). Hans-Peter Friedrich (CSU) ist als amtierender Ressortchef derzeit verantwortlich für die Arbeit von Polizei und Nachrichtendiensten.

Vage Erinnerungen eines Landesministers

Auch in den Ländern herrscht Funkstille. Eine Ausnahme ist Schilys früherer Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Fritz Behrens. Anders als der Bundesinnenminister kann sich der SPD-Landesminister jedoch nur noch vage an die Ereignisse von Köln erinnern. Aber eines weiß er „ganz sicher“: Einen terroristischen Hintergrund habe er nie ausgeschlossen. Zeithistoriker könnten sich nun angespornt sehen, seine Aussage im Archiv zu prüfen.

Zehn Menschen starben, drei Terroristen lebten mehr als ein Jahrzehnt unerkannt im Untergrund. Es gab Helfer und Helfershelfer - und es gibt Familien, die bis heute trauern. Bekenntnisse können all das nicht wieder gut machen, Otto Schilys Vorstoß verdient dennoch Respekt.