Horst Köhlers unkonventionelle, empfindsame Art war Stärke und Schwäche zugleich. Mit ihm ist ein Mann abgetreten, der sich als Bürgerpräsident begriffen hat.

Berlin. Es war ein Tag des ungeteilten Glücks. Das Echo von Beethovens Neunter hing noch in der Luft, und die Sonne tauchte das Brandenburger Tor schon in ein mildes Abendlicht, als sich Horst Köhler noch einmal zu der Menschenmenge umwandte, um Glückwünsche entgegen zu nehmen und Hände zu schütteln. Strahlend vor Freude, eins mit sich und den Deutschen, die zu Hunderttausenden gekommen waren, um diesen Tag in Berlin zu feiern. Gemeinsam mit ihrem alten und neuen Bundespräsidenten.

Ein Jahr liegt das zurück. Am 23. Mai 2009 wurde Köhler in die zweite Amtszeit gewählt, die er sich so sehr gewünscht hatte. "Ich werde mein Bestes geben!" hat er damals gesagt. Das entsprach seiner unkonventionell burschikosen Art, die man im Berliner Politikbetrieb häufig als unpassend empfand, die diesen Bundespräsidenten in den Augen der Deutschen aber anziehend machte. Dass Horst Köhler gerade dafür gemocht wurde, dass er nicht sein wollte - oder konnte - wie es das Amt scheinbar verlangte, gibt seinem Abgang etwas ausgesprochen Bitteres.

+++Abendblatt-Chefredakteur Claus Strunz zum Rücktritt von Horst Köhler+++

Horst Köhler war 61 Jahre alt, als er auf Wunsch von Angela Merkel und Guido Westerwelle vor sechs Jahren in das höchste Staatsamt aufstieg, und er war das Gegenteil seines Vorgängers Johannes Rau. Kein Berufspolitiker, sondern ein Seiteneinsteiger. Kein Prediger, sondern ein Pragmatiker. Ein Ökonom, den außerhalb der Finanzwelt niemand kannte. Er war ein Kompromisskandidat, ein Ersatzmann für Wolfgang Schäuble, den die Liberalen nicht mittragen wollten. Im Gegensatz zu all seinen Vorgängern war Horst Köhler ein politisch unbeschriebenes Blatt, als er sich am 23. Mai 2004 in der Bundesversammlung gegen die SPD-Kandidatin Gesine Schwan durchsetzte. Mit einem denkbar knappen Vorsprung von 604 zu 589 Stimmen. Köhlers Wahl fiel in die Endzeit der rot-grünen Bundesregierung, und sie hätte ein Aufbruchssignal für Schwarz-Gelb sein sollen. Doch es kam anders als geplant. Ein paar Monate später wurde die Union in die große Koalition gezwungen, und die Liberalen blieben in der Opposition zurück.

Es wirkt deshalb wie eine Ironie der Geschichte, dass Horst Köhler abtritt, obwohl jetzt diejenigen gemeinsam regieren, die den einstigen Chef des Internationalen Währungsfonds damals engagiert haben. Und die ihn überschätzt haben. Am Ende hat sich Köhler allein gelassen und wohl auch selbst überfordert gefühlt.

Als Köhler gestern mit stockender Stimme seinen Rücktritt bekannt gab, war er naturgemäß der einsamste Mann in Berlin. Um diese schwierigen Augenblicke zu überstehen, hatte er seine Frau mitgebracht. Eva Luise, der er nach seiner Wiederwahl im Bundestag zugerufen hatte: "Jede Stunde ist ein Geschenk mit dir!" Was seine Kritiker damals irgendwie für unangemessen gehalten hatten. Dass sich Köhler solche Einfälle nicht abgewöhnen wollte, hat allerdings einen Großteil seines Charmes ausgemacht.

Seine Unberechenbarkeit und die Unbeholfenheit, die in dieser und anderen Aktionen zum Ausdruck kam, hat in Unions- und FDP-Kreisen immer wieder zu Irritationen geführt und den Oppositionsparteien die offene Flanke gezeigt. Genüsslich haben sich SPD, Grüne und Linkspartei in der vergangenen Woche auf Köhlers unglückliche Bemerkung zur Rolle der Bundeswehr gestürzt. Am giftigsten äußerte sich Jürgen Trittin. "Man möchte zu seinen Gunsten annehmen, dass er sich bei diesen Worten auf den Pfaden seines Vorgängers Heinrich Lübke vergaloppiert hat", sagte der Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion. Köhler müsse sich korrigieren. "Wir brauchen weder Kanonenbootpolitik, noch eine lose rhetorische Deckskanone an der Spitze des Staates." Das war am Freitag. Gestern erschien im "Spiegel" unter der Überschrift "Horst Lübke" eine Zwischenbilanz von Köhlers zweiter Amtszeit, in der die Entfremdung zwischen der Bundesregierung und diesem Bundespräsidenten thematisiert wurde.

+++ Hintergrund: Horst Köhler über Soldaten und Wirtschaftsinteressen +++

Tatsächlich hat Horst Köhler in den zurückliegenden Monaten an Standing verloren. Was immer er tat, schien er falsch zu machen. Sagte er nichts, hieß es, er sei abgetaucht. Äußerte er sich dann doch, dann war er der "Schwadroneur im Schloss Bellevue" oder "Der Mann im Frack am Gartenzaun" ("Süddeutsche Zeitung"). Die "taz" ging sogar so weit zu fordern, man solle diesen Bundespräsidenten "erlösen".

Angesichts solcher Verrisse wartete Köhler auf Unterstützung durch die Regierungsparteien. Vergeblich. Die ließen Köhler bewusst hängen, weil er plötzlich gemeint hatte, CDU/CSU und FDP via "Focus" die Leviten zu lesen zu müssen. In diesem Interview hatte Köhler die Bundesregierung aufgefordert, endlich "tatkräftig" zu regieren. Schließlich hätten Union und Liberale eine "ordentliche Mehrheit". Daran gemessen seien die ersten Monate enttäuschend gewesen. Weil sich Köhler in diesem Zusammenhang nicht nur skeptisch über Steuersenkungen geäußert hatte, sondern sogar gemeint hatte, Steuererhöhungen könnten notwendig werden, hatte er die Koalitionäre gegen sich aufgebracht. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm kommentierte Köhlers Interview Ende März mit dem kühlen Satz: "Das Wort des Staatsoberhauptes steht für sich."

Auf dem Höhepunkt der Aufregung um Köhlers Afghanistan-Äußerungen war die Atmosphäre dann vollends frostig. Das Verfassungsorgan Bundesregierung nehme zu den Äußerungen des Verfassungsorgans Bundespräsident nicht Stellung, hieß es kalt in der Regierungspressekonferenz.

Verlassen wirkte Horst Köhler seit geraumer Zeit auch im Bundespräsidialamt. Der Machtkampf zwischen seinem langjährigen Sprecher Martin Kothé und dem neuen Staatssekretär Hans-Jürgen Wolf hatte die Atmosphäre peu á peu vergiftet. Am Ende konnte Köhler selbst engste Mitstreiter nicht halten. In diesem Chaos, das sich hinter den Kulissen von Schloss Bellevue abspielte, lag Köhlers Sprachlosigkeit begründet, die dann monatelang beklagt wurde. Dieser Präsident schweige, während seine Wunschkoalition vor sich hinstolpere, hieß es unzufrieden in Berlin. Und in der Folge gingen immer mehr Parteipolitiker dazu über, den Bundespräsidenten öffentlich zu kritisieren. In dieser Phase wurde offenbar, dass Köhler die politische Autorität eines Roman Herzog oder eines Richard von Weizsäcker fehlten.

Am Ende konnte man erkennen, wie sehr Köhler darunter gelitten hat. Immer getriebener, immer dünnhäutiger wirkte der Mann, der einst so unbeschwert und unbefangen aufgetreten war. Dass sich Köhler ausgerechnet jetzt so desavouiert fühlte, dass er keinen anderen Ausweg als den eigenen Rücktritt sah, ist das Eingeständnis seines Scheiterns. Ausgerechnet der Ökonom, der den Staat schärfer als andere zum Kampf gegen das "große Geld" aufgefordert hatte, zieht sich in der Zeit der größten Finanzkrise der Nachkriegszeit zurück. Vom politischen Establishment enttäuscht und gekränkt.

Mit Köhler ist ein Mann abgetreten, der sich als Bürgerpräsident begriffen hat. So war es sinnfällig, dass Horst Köhler bei seinem letzten Auftritt auch nur die Bürger um Verständnis für seine Entscheidung bat.