Hans-Jürgen Papiers (66) heutiger Urteilsspruch ist mindestens so wegweisend wie sein Hartz-IV-Urteil. Er hat europaweit Bedeutung.

Hamburg. Als Hans-Jürgen Papier vor drei Wochen die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene und Kinder für verfassungswidrig erklärte, sprachen etliche Beobachter vom letzten großen Auftritt des Bundesfassungsgerichtspräsidenten. Sie irrten gleich doppelt. Zum einen ist der Nachfolger für den 66-Jährigen, der bisherige Vizepräsident Andreas Vosskuhle, entgegen dem ursprünglichen Zeitplan doch noch nicht gewählt worden.

Zum anderen gilt Papiers heutiger Urteilsspruch als mindestens so wegweisend wie sein Hartz-IV-Urteil. Heute schauen nicht allein Datenschützer und Bürgerrechtler gespannt nach Karlsruhe. Das Urteil hat Bedeutung in ganz Europa. Es geht um die Vorratsdatenspeicherung, ein Gesetz, das eine EU-Richtlinie zur Terrorabwehr umsetzt. Es schreibt vor, dass Telekommunikationsunternehmen die Daten von Telefon-, E-Mail- und Internetverbindungen ein halbes Jahr lang speichern.

Das "Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung" war seinerzeit von der Großen Koalition gegen die Stimmen von FDP, Grünen und Linkspartei verabschiedet worden. Schon damals war der Protest von Bürgerrechtlern gewaltig und löste ein in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts einmaliges Massenklageverfahren aus.

Rund 35 000 Bürger sind gegen die Vorratsdatenspeicherung juristisch vorgegangen, unter ihnen Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten und Politiker. Sie sind in drei Klägergruppen aufgeteilt. Eine von ihnen vertritt der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der Kläger und zugleich Anwalt der Gruppe ist. Der Berliner Rechtsanwalt Meinhard Starostik vertritt rund 34 900 Kläger. Der Grünen-Politiker Volker Beck hat mit mehr als 40 Abgeordneten seiner Partei Beschwerde eingelegt.

Auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gehört zu den Beschwerdeführern. Die amtierende Bundesjustizministerin war wegen ihres "Rollenkonflikts" aber nicht selbst zu der Anhörung im vergangenen Dezember gekommen. Seit ihrer Amtsübernahme ist die Klägerin zugleich Beklagte. Auch bei der Urteilsverkündung wird sie fehlen. Die Bundesregierung wird bei der Urteilsverkündung nur mit der Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, Birgit Grundmann, vertreten sein.

Wenn überhaupt, dürften die Verfassungsrichter das Gesetz nur in sehr engen Grenzen zulassen. Schon bei der mündlichen Verhandlung im Dezember ließ Papier durchblicken, dass die rechtlichen Anforderungen an eine so "umfangreiche und sensible Datensammlung" geklärt werden müssten. Aber auch, ob eine "anlasslose Vorratsdatenspeicherung" über sechs Monate mit dem Fernmeldegeheimnis überhaupt vereinbar ist, wird Papier klarstellen. Im März 2008 hatte das Verfassungsgericht Teile der deutschen Vorschrift per einstweiliger Anordnung gestoppt. Seitdem dürfen die Daten zunächst nur für die Verfolgung besonders schwerer Straftaten wie Mord oder Kinderpornografie genutzt werden.

Papiers letztes Urteil wird jedoch nicht das Ende seiner Juristen-Laufbahn sein. Er kehrt zurück zur Universität München und wird ab dem Sommersemester wieder Vorlesungen halten. Er ist froh, eine Aufgabe zu haben. "In den Hobbykeller muss ich noch nicht, um anderen nicht auf den Wecke zu fallen", sagt er. Auf Papiers Lehrplan in München steht auch Öffentliches Recht für Anfänger. Allein seine zwölf Jahre als Verfassungsrichter im Ersten Senat, davon acht Jahre als Präsident des Gerichts, liefern Lehrstoff für Jahre. In seine Amtszeit fielen gerade zuletzt aufsehenerregende Urteile, die die Bundesregierung zum Handeln zwangen. Neben Hartz IV betrafen sie etwa die unzulässige Kürzung der Pendlerpauschale oder die Online-Durchsuchungen von Computern. Aus der Politik mehrten sich zuletzt die Vorwürfe, das Gericht geriere sich als Ersatzgesetzgeber.

Auf seiner letzten Pressekonferenz vergangene Woche wehrte sich Papier und holte zum Beweis eine Statistik hervor: 619 Gesetze und Verordnungen von Bund und Ländern habe das Gericht seit seinem Bestehen teilweise oder ganz aufgehoben. Damit liege diese Zahl vergleichsweise im Promillebereich, sagte er. Da wollte niemand mehr widersprechen.