Die Vizevorsitzende der Linksfraktion über die rot-rote Annäherung, ehemalige Stasi-Spitzel und ihre Parteifreundin Sahra Wagenknecht.

Berlin. Hamburger Abendblatt: Frau Lötzsch, Sie wollen Oskar Lafontaine an der Spitze der Linkspartei ersetzen. Welche Eigenschaften teilen Sie mit ihm?

Gesine Lötzsch: Ich versuche, meine Positionen klar zu formulieren und langfristig zu denken. Das verbindet mich mit Oskar Lafontaine.

Abendblatt: Lafontaine gilt gleichermaßen als Macht- und als Genussmensch. Sind Sie das auch?

Lötzsch: Ich gehöre nicht zu denen, die verkniffen durch die Gegend laufen. Ich will Lebensfreude ausstrahlen.

Abendblatt: Was ist für Sie Luxus?

Lötzsch: Viel Zeit zu haben. Ich bin zufrieden, wenn auf meinem Konto kein Minus ist, aber ich strebe nicht nach großen materiellen Gütern.

Abendblatt: Sie leben mit Ihrer Familie in einem Plattenbau in Berlin-Lichtenberg. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie in München-Bogenhausen oder Hamburg-Blankenese unterwegs sind?

Lötzsch: Als direkt gewählte Abgeordnete aus Lichtenberg würde es mir nicht gut zu Gesicht stehen, wenn ich mich plötzlich in eine feine Gegend verziehen würde. Ich freue mich über alle, die ein schönes Zuhause haben.

Abendblatt: Was soll mit den Steuersündern geschehen, deren Daten auf der Schweizer CD zu finden sind?

Lötzsch: Der Staat ist da in einer prekären Situation. Wenn er gestohlene Daten auf dem Schwarzmarkt kauft, wird er zum Hehler. Wenn er die Daten nicht kauft, macht er sich der Strafvereitelung schuldig. Unter dem Strich bin ich für den Kauf der Schweizer CD. Steuersünder, die jetzt nicht die Möglichkeit der Selbstanzeige nutzen, müssen hart bestraft werden.

Abendblatt: Haben Sie ein Rezept gegen Steuerflucht? Höhere Steuern für Reiche wären eher ein Katalysator ...

Lötzsch: Wir brauchen ein internationales Abkommen zum Austausch von Bankdaten. Daten von Fluggästen werden über Ländergrenzen hinweg ausgetauscht. Bei Steuerhinterziehern sind die Regierungen wesentlich zurückhaltender.

Abendblatt: Wahrscheinlich, weil sie das Bankgeheimnis achten.

Lötzsch: Das Bankgeheimnis ist ein hohes Gut. Aber wir brauchen internationale Regeln, um Steuerschlupflöcher zu schließen und Steueroasen auszutrocknen. Es kann nicht sein, dass manche Länder die Steuerhinterziehung als Geschäftsmodell begreifen.

Abendblatt: In Nordrhein-Westfalen tritt die Linke für die Verstaatlichung der Energiekonzerne, die Abschaffung von Schulnoten und das Recht auf Rausch ein. Kann man so regieren?

Lötzsch: Also, erst einmal treten wir an, um in den nordrhein-westfälischen Landtag einzuziehen. Unsere Spitzenkandidatin Bärbel Beuermann ist eine sehr solide Lehrerin. Am 27. Februar hält die Landespartei einen Sonderparteitag ab, auf dem ein konkretes Programm vorgelegt wird ...

Abendblatt: ... das Sigmar Gabriel nicht mehr verschreckt? Der SPD-Chef hat die NRW-Linken kürzlich für regierungsunfähig erklärt.

Lötzsch: Ach, Herr Gabriel ist hart im Nehmen. Im Übrigen weiß er politische Realitäten entsprechend zu bewerten. Die NRW-Linken werden ein Zukunftsinvestitionsprogramm beschließen. Darin geht es etwa um die Sicherung von Arbeitsplätzen.

Abendblatt: Rot-Rot-Grün ist also möglich?

Lötzsch: Wenn es für eine Mehrheit reicht und die Inhalte stimmen, dann ist Rot-Rot-Grün in NRW denkbar. Die Entscheidung fällt in den Landesverbänden der Parteien, nicht in Berlin. Die SPD wäre schlecht beraten, ein Ende der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat zu verhindern.

Abendblatt: In welchen norddeutschen Bundesländern können Sie sich rot-rote oder rot-rot-grüne Bündnisse vorstellen?

Lötzsch: In allen, in denen es reicht.

Abendblatt: Olaf Scholz als rot-rot-grüner Bürgermeister der Hansestadt Hamburg?

Lötzsch: Warum nicht, wenn die Inhalte stimmen? Ich habe seit der Bundestagswahl den Eindruck, dass die Kollegen der SPD sehr daran interessiert sind, sehr gute Beziehungen zu uns zu pflegen. Das ist fast schon irritierend, wie nett die plötzlich sind. Selbst die Stones, also Steinmeier und Steinbrück, sind äußerst freundlich.

Abendblatt: Ist 2013 die Zeit reif für eine rot-rot-grüne Bundesregierung?

Lötzsch: Die Inhalte müssen stimmen. Das bedeutet für uns: Hartz IV abschaffen, einen gesetzlichen Mindestlohn beschließen, die Rente mit 65 wieder einführen und die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen. Wenn wir diese Forderungen nach der nächsten Bundestagswahl mit SPD und Grünen umsetzen können, ist eine rot-rot-grüne Bundesregierung möglich.

Abendblatt: Bundestagsvizepräsident Thierse denkt bereits an eine Fusion seiner SPD mit der Linkspartei. Ein Hirngespinst?

Lötzsch: Ich will Herrn Thierse nicht zu nahe treten, aber diese Frage steht nicht auf der Tagesordnung. Jetzt geht es darum, die Agenda 2010 zu überwinden. Vor allem geht es um die Abschaffung von Hartz IV.

Abendblatt: In Frankreich kommt es vor, dass Bürger streiken, um verhasste Gesetze zu Fall zu bringen. Sind die Deutschen da zu zahm?

Lötzsch: Deutschland ist nicht Frankreich. Aber der politische Streik ist für die Linke ein gutes Mittel, um sozial ungerechte Gesetze wie Hartz IV zu bekämpfen.

Abendblatt: Sie sind in Ostdeutschland aufgewachsen, 1984 der SED beigetreten. War die DDR ein Unrechtsstaat?

Lötzsch: Den Begriff Unrechtsstaat lehne ich ab. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat mir bestätigt, dass Unrechtsstaat ein politischer Kampfbegriff ist.

Abendblatt: Wollen Sie die DDR zum Rechtsstaat erklären?

Lötzsch: Die DDR war kein Rechtsstaat. Es fehlte die Gewaltenteilung. In der DDR ist viel Unrecht geschehen.

Abendblatt: Ihre Parteifreundin Sahra Wagenknecht soll die Mauer als "notwendiges Übel" bezeichnet haben, wie ihr Ehemann im Internet enthüllt hat. Gehören solche Positionen zum Meinungsspektrum der Linkspartei?

Lötzsch: Sahra Wagenknecht hat neulich in einem Interview gesagt, dass sie viele Äußerungen, die sie vor zehn oder 15 Jahren gemacht hat, heute nicht mehr machen würde. Im Übrigen hat der Ehemann seinen Blog inzwischen zurückgezogen. Dabei wollen wir es bewenden lassen.

Abendblatt: Wäre Frau Wagenknecht eine gute stellvertretende Parteivorsitzende?

Lötzsch: Wenn Sahra Wagenknecht gewählt wird, dann wird sie im Sinne der Gesamtpartei wirken, da bin ich mir sicher.

Abendblatt: Im brandenburgischen Landtag sitzen für die Linke auch ehemalige Stasi-Mitarbeiter. Stört Sie das gar nicht?

Lötzsch: Ein Beispiel: Die Fraktionsvorsitzende in Brandenburg wurde dreimal direkt in den Landtag gewählt - obwohl die Bürger ihre Stasi-Vergangenheit kannten. Da hat man das Votum der Bürger zu respektieren.

Abendblatt: Lassen Sie auch zu, dass ehemalige Stasi-Spitzel Minister werden?

Lötzsch: Wir leben in einer Demokratie. Wer gewählt wird, ist gewählt.

Abendblatt: In einer neuen Umfrage haben 56 Prozent der Bundesbürger angegeben, dass ihnen der Name Gesine Lötzsch kein Begriff ist. Wie viele sollen es in einem Jahr sein?

Lötzsch: Ich halte es für ein sehr gutes Ergebnis, dass mich nach einer Woche Kandidatur 44 Prozent der Bürger kennen. Im nächsten Jahr werden es bestimmt noch viel mehr sein.