Rückblick: Der Eiserne Vorhang bekommt Risse und Ungarn wird zum Tor zur Freiheit. DDR-Bürger suchen in der deutschen Botschaft in Budapest Zuflucht und wollen diese erst verlassen, wenn sie ausreisen dürfen.

Hamburg. Heute vor 20 Jahren: Es ist schon ein merkwürdiges Bild, wie die beiden Herren in feinen Anzügen einer offenbar recht ungewohnten körperlichen Tätigkeit nachgehen. Etwas ungelenk, aber mit strahlenden Gesichtern durchschneiden an diesem 27. Juni 1989 der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn mit Bolzenschneidern den Stacheldraht an der ungarisch-österreichischen Staatsgrenze. Zu dieser Zeit weist der jahrzehntelang fast undurchdringliche Eiserne Vorhang freilich schon viele Löcher auf, denn die Ungarn hatten bereits Anfang Mai damit begonnen, die Grenzanlagen zu demontieren. Als Horn Anfang Juni seinen Ministerpräsidenten Miklós Németh über den geplanten medienwirksamen "Grenzdurchbruch" informiert, witzelt dieser: "Gyula, mach's, aber beeil dich - es ist kaum noch Stacheldraht übrig."

Der SED-Führung ist aber nicht nach Witzen zumute. In den Augen von Honecker und Krenz ist das, was die "ungarischen Genossen" jetzt tun, eindeutig Verrat. Jahrzehntelang hatte sich Ost-Berlin darauf verlassen können, dass der Eiserne Vorhang dicht war. Für DDR-Flüchtlinge war die 350 Kilometer lange ungarisch-österreichische Grenze genauso lebensgefährlich wie die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze. Auch hier gibt es Stacheldraht und Sperranlagen, auch hier wird geschossen, auch hier kommen DDR-Bürger zu Tode. Wer von den ungarischen Grenztruppen festgenommen wird, kommt zunächst in ein Gefängnis nach Budapest, bis er per Flugzeug nach Berlin-Schönefeld abgeschoben wird. Dort warten dann die Verhörspezialisten der Stasi.

Aber schon im März 1989 ist das inzwischen von Reformkommunisten regierte Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und hat sich damit verpflichtet, Flüchtlinge nicht mehr in ihre Herkunftsländer abzuschieben, wenn ihnen dort Verfolgung droht. Praktisch bleibt freilich zunächst alles beim Alten, denn die Stasi hat gute Kollegen und Freunde in Ungarn. So beruhigt Ungarns Stasi-Chef Ferenc Pallagi den MfS-General Gerhard Niebling, der eigens nach Budapest geflogen ist, um sich über die neue Lage zu informieren. Er solle sich keine Sorgen machen, sagt Pallagi ihm, die bisherige Praxis werde selbstverständlich fortgesetzt.

Die Lage ist unübersichtlich: Einerseits reißt Ungarn den Eisernen Vorhang medienwirksam nieder, andererseits greifen ungarische Grenzer nach wie vor fluchtwillige DDR-Bürger auf, um sie zu inhaftieren und in die DDR abzuschieben. Am 12. Juni startet in Budapest ein Flugzeug mit 101 "Grenzverletzern" Richtung Ost-Berlin, und auch das ist noch nicht der letzte Gefangenentransport dieser Art. Trotzdem sehen viele Ostdeutsche in Ungarn bereits das Tor zur Freiheit. Natürlich haben sie den "Grenzdurchbruch" von Alois Mock und Gyula Horn an der Grenze im Westfernsehen gesehen, und für manch einen ist dies der letzte Anstoß, sich auf den Weg nach Ungarn zu machen.

Das ist freilich nicht so einfach: DDR-Bürger können sich nicht einfach ins Auto setzen, um ihr Land zu verlassen. Für Ungarn benötigen sie zwar kein Visum, dafür aber eine "Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr", die bei der Volkspolizei beantragt werden muss und jederzeit verweigert werden kann.

Für DDR-Bürger ist Ungarn schon lange das begehrteste, allerdings auch das teuerste Reiseland. Die "fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager" ist weniger grau als die DDR und deutlich liberaler. Budapest wirkt fast wie eine westliche Stadt, mit einem bisschen Glück kann man hier sogar bundesdeutsche Bücher und Zeitschriften bekommen.

Als am 3. Juli in der DDR die zweimonatigen Schulferien beginnen, steigt die Zahl der ostdeutschen Ungarn-Touristen sprunghaft an. Ende Juli registrieren die Behörden einen Anstieg der Reisewünsche um 25 Prozent.

Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für die Schönheit des Landes, sondern wollen es möglichst schnell in Richtung Westen wieder verlassen. Die Campingplätze und Pensionen in Grenznähe werden von DDR-Bürgern belagert, die entweder auf eigene Faust oder in Begleitung von ortskundigen Fluchthelfern den Eisernen Vorhang überwinden wollen - was noch immer riskant ist. Noch am 12. Juli 1989 schickt die ungarische Stasi einen Häftlingstransport nach Ost-Berlin, allerdings wird das der letzte sein.

Tag für Tag kommen Ostdeutsche, die in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest Zuflucht suchen und diese erst wieder verlassen wollen, wenn ihre Ausreise garantiert wird. Doch der Platz wird mit der Zeit knapp, bald müssen sie überall auf dem Gelände kampieren.

Als die Zahl der Botschaftsbesetzer am 12. August auf knapp 200 gestiegen ist, wird die Vertretung geschlossen. Eine Woche später, am 19. August, findet in der Nähe von Sopron, genau dort, wo Horn und Mock im Juni den Stacheldraht zerschnitten haben, eine Aktion statt, die viele DDR-Bürger zur Flucht nutzen werden. Für das "Paneuropäische Picknick", eine von Österreichern und Ungarn gemeinsam organisierte Friedensdemonstration, wird das Grenztor an der alten Pressburger Landstraße zwischen Sankt Margarethen im Burgenland und dem ungarischen Sopronkohida symbolisch für drei Stunden geöffnet.

661 Ostdeutsche nutzen die Gelegenheit und überschreiten die Grenze, während die ungarische Soldaten, die eigentlich eingreifen müssten, zur Seite schauen.

Inzwischen tobt in der Budapester KP-Zentrale ein Machtkampf zwischen Reformern und Hardlinern. Nach dem Ende des "Paneuropäischen Picknicks" wird die Grenze geschlossen, und von nun an wieder schärfer bewacht.

Die allermeisten DDR-Bürger wissen das nicht. Auch der Weimarer Architekt Kurt-Werner Schulz, der mit seiner Lebensgefährtin Gundula Schafitel und dem gemeinsamen Sohn Johannes fliehen will, glaubt nicht, dass er sich damit in tödliche Gefahr begibt. In der Nacht vom 21. zum 22. August versucht die Familie zwischen den Grenzsteinen B 80/3 und B 80/4 nach Österreich zu gelangen. Ein junger Grenzsoldat entdeckt die Flüchtenden und schießt. Nicht Chris Gueffroy, der am 5. Februar an der Berliner Mauer erschossen wurde, sondern der 36-Jahre alte Kurt-Werner Schulz ist das letzte Opfer des Eisernen Vorhangs. Er stirbt in den Morgenstunden des 22. August vor den Augen seiner Frau und seines Kindes.

Am 31. August fliegt Ungarns Außenminister Gyula Horn nach Ostberlin, um seinem Amtskollegen Oskar Fischer mitzuteilen, dass Ungarn die Grenze öffnen wird. Bei diesem Gespräch ist Horn längst nicht so entspannt wie bei seinem Treffen mit Alois Mock am 27. Juni am Grenzzaun. Diplomatische Höflichkeiten werden außer Acht gelassen, später erfährt man, dass es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen sei. Am 10. September gibt Horn dann offiziell bekannt, dass alle DDR-Bürger, die sich in Ungarn aufhalten, nach Österreich ausreisen dürfen. Für Kurt-Werner Schulz kommt diese Entscheidung 18 Tage zu spät.