Er fürchtet eine neue Große Koalition, aber die Politikmüden noch mehr. Helmut Kohl kritisiert auch die Debatte um Überhangmandate.

Berlin. Altkanzler Helmut Kohl (CDU) hat Sorge wegen der Nichtwähler, aber kein Verständnis für die Debatte um die Überhangmandate bei der Regierungsbildung. „Das ist auch so eine idiotische Diskussion, die von den Inhalten ablenkt“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Gegebenenfalls dürfe demnächst auch eine schwarz-gelbe Koalition auf Basis von Überhangmandaten regieren, „das haben andere vor ihr übrigens auch schon gemacht. Und hier ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ja auch ganz klar.“

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Sitze erobert als sie gemessen an ihrem Zweitstimmen-Ergebnis bekommen würde. Dem schwarz-gelben Lager könnten so nach Meinung von Experten bei der Wahl am Sonntag etwa 45 Prozent der Stimmen für eine Mehrheit im Bundestag reichen. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2008 eine Änderung des Wahlrechts bis Mitte 2011 verlangt. Kritiker meinen nun, Parteien dürften diese „Duldung“ der verfassungswidrigen Vorschriften nicht missbrauchen, um eine Koalition zu bilden, deren Mehrheit nur durch Überhangmandate zustande kommt.

Zur Kritik am zurückhaltenden Wahlkampfstil von Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel wollte Kohl nicht direkt Stellung nehmen. „Ich finde die Diskussion auch ebenso überflüssig wie gefährlich. Sie lenkt nur von der eigentlichen Frage ab, die da lautet: Wofür steht die einzelne Partei? Was erwartet uns in den nächsten vier Jahren?“

Eine mögliche neue Große Koalition wollte der Altkanzler nicht als Unglück bezeichnen. Kohl: „Ich würde eher sagen, eine Neuauflage der Großen Koalition wäre wieder ein großer Kompromiss. Und mit einem großen Kompromiss können Sie niemals das Potenzial eines Landes so ausschöpfen, wie es möglich ist, wenn Sie in einer Koalition regieren, in der die Parteien auf einem zumindest ähnlichen Wertefundament stehen.“ Im Vergleich zu einer rot-rot-grünen Koalition sei Schwarz-Rot „natürlich das kleinere Übel“, bleibe aber „trotzdem nur die zweitbeste Lösung nach Schwarz-Gelb“.

Sorge macht dem 79-Jährigen die sich abzeichnende schwache Beteiligung an der Bundestagswahl. „Es macht aber auch mir große Sorge, wenn ich höre und lese, wie viele Menschen noch nicht entschieden haben, wen sie wählen wollen und ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollen." Der steigende Anteil der Nichtwähler könnte zu einer Gefahr für die Demokratie werden, warnt der Bielefelder Politologe-Professor Detlef Sack. Kurz vor der Bundestagswahl seien noch rund 40 Prozent der Wähler unsicher, welche Partei sie wählen oder ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollen, sagte der Forscher der Deutschen Presse-Agentur dpa. „Vor vier Jahren waren es etwa 30 Prozent.“ Hauptproblem sei die Gruppe der sozial Benachteiligten, die sich dauerhaft aus dem System verabschiede. Diese mache rund ein Fünftel der Wahlberechtigten aus.