Deutschland war einmal der Inbegriff von Gründlichkeit und Wertarbeit. Das ist heute vorbei. Warum geben wir ethische Grundsätze so schnell auf?

Ein letztes Mal erklangen die berühmten Glocken am 14. April 1945. Nach einem verheerenden alliierten Luftangriff lösten sie sich nacheinander aus ihrer feuerglosenden hölzernen Aufhängung, stürzten 80 Meter in die Tiefe und gaben dabei einen weithin hallenden Klagelaut von sich. Die Potsdamer Garnisonkirche, an deren Orgel Johann Sebastian Bach gespielt hatte, in deren Königsgruft der preußische Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und sein Sohn, der legendäre Alte Fritz, begraben lagen, blieb bis zu ihrer Sprengung durch das Ulbricht-Regime 1968 eine traurige Hülle. Alle halbe Stunde hatte ihr Glockenspiel mit goldenem Klang "Üb immer Treu und Redlichkeit" gespielt. Der Text stammt aus einem Gedicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty, die Musik von W. A. Mozart.

+++Von Deutschen wird Pünktlichkeit erwartet+++

Die kleine Textzeile repräsentiert wie kaum eine andere jene preußischen Tugenden, die vor allem mit den beiden preußischen Königen zusammenhängen. Tugend - das kommt von taugen, also von der Eignung eines Menschen, seiner Fähigkeit, eine moralisch oder anderweitig wertvolle Leistung zu erbringen. Für den griechischen Philosophen Aristoteles war die Tugend der Schlüssel zu einem geglückten Leben.

Aus den zunächst preußischen Tugenden wurden nach der Reichsgründung 1871 die deutschen Tugenden. Und einige von ihnen wurden Jahrzehnte später von den Schergen Adolf Hitlers, der sich in die Tradition Friedrichs des Großen hineinmogeln wollte, krass missbraucht.

Was etwa Anstand und Pflichtbewusstsein für Heinrich Himmler bedeuteten, den "Reichsführer SS", beschrieb er in einer Ansprache vor SS-Kommandeuren am 4. Oktober 1943 im Rathaus von Posen: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen - anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals zu nennendes Ruhmesblatt." Der millionenfache Mord an Menschen als "Ruhmesblatt", ermöglicht angeblich durch deutsche Tugend - diese beispiellose Vergewaltigung von Werten vergiftet die Debatte bis zum heutigen Tag.

Treue, Disziplin, Härte gegen sich selbst - diese Eigenschaften brachten viele in Deutschland nach dem Untergang des Terror-Regimes vorwiegend mit der Wehrmacht oder der SS in Zusammenhang, die viele Völker Europas brutal in den Staub getreten hatten. "Meine Ehre heißt Treue" lautete das Motto der SS. Als Preußen 1945 de facto und zwei Jahre später mit dem alliierten Kontrollratsgesetz Nummer 46 auch de jure aufhörte zu existieren, waren Disziplin, Treue, Gehorsam und Tapferkeit als deutsche Tugenden mit einer schweren Hypothek behaftet.

+++Geiz - die neue deutsche Tugend+++

Das gilt mit Einschränkungen noch immer. Man stelle sich den Protest vor, wenn in einem Bericht über die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan deren Tapferkeit, Pflichtbewusstsein und Disziplin im Angesicht eines erbarmungslosen Feindes gewürdigt würden - schon eine derartige Wortwahl erregt seit den Wehrmachtsberichten in Deutschland höchstes Misstrauen.

Und was ist heute mit den anderen "deutschen" Tugenden - mit Fleiß, Unbestechlichkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit vor allem, aber auch Sparsamkeit, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit? Mit Blick auf die unselige NS-Vergangenheit hat die emanzipatorische und links orientierte 68er-Bewegung versucht, gleich den größten Teil des tradierten bürgerlichen Wertekanons zu entbehrlichen "Sekundärtugenden" zu degradieren und kulturell zu entsorgen. Sie sollten forthin als zweitrangige Tugenden gelten - im Unterschied etwa zu den grundlegenden christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und den antiken Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Mäßigung).

Der deutsche Schriftsteller Carl Amery, Gründungsmitglied der Grünen, hat die Diskussion über die von ihm verachteten bürgerlichen Tugenden nachhaltig beeinflusst, als er schrieb: "Ich kann pünktlich zum Dienst im Pfarramt oder im Gestapokeller erscheinen, ich kann mir die Hände nach einem rechtschaffenen Arbeitstag im Kornfeld oder im KZ-Krematorium waschen." Unvergessen ist auch der Streit zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem ehemaligen SPD-Politiker Oskar Lafontaine um die Nato-Nachrüstung 1982, in dessen Verlauf Lafontaine sagte, mit den von Schmidt propagierten "Sekundärtugenden" Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit "kann man auch ein KZ betreiben". Schmidt konterte damals, wenn "einer diese Tugenden mit dem Wort Sekundärtugenden lächerlich macht, so fehlt ihm selbst die Kardinaltugend der Klugheit - und außerdem der Anstand".

+++Porträt: Wertarbeit ist krisenfrei+++

Die Verleumdung bestimmter Tugenden wirkt bis heute nach. Als "Primärtugenden" definierte Lafontaine übrigens Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Solidarität, Respekt vor anderen, Toleranz und Geduld. "Was als Sekundärtugenden verschrien wurde, hat erst Wohlstand und Frieden in Deutschland mit ermöglicht", gibt dagegen der deutsch-israelische Schriftsteller, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Rafael Seligman zu bedenken. Er nennt gegenüber dem Abendblatt als Tugenden ausdrücklich "Disziplin, Pünktlichkeit, Arbeitsfreude und Loyalität". Sie müssten allerdings in enger Verbindung zu moralischen Werten wie Menschlichkeit, Freiheitswillen und Demokratie stehen. "Wenn diese verloren gehen, können genannte Tugenden natürlich ins Negative umschlagen - wie wir es in der Vergangenheit erlebt haben."

Den Deutschen oft zugemessene Kerntugenden wie Pünktlichkeit, Disziplin und Sparsamkeit können aber auch in der freiheitlichen Demokratie beschädigt oder gar ignoriert werden. Das Gefühl haben viele Bürger, wenn beispielsweise das Berliner Prestigeprojekt Hauptstadtflughafen nicht rechtzeitig fertig wird. Da ist zeitgeistig von "Missmanagement" und "qualitativen Ausführungsmängeln" die Rede. Im Klartext: Deutschland, das Land der Pünktlichkeit, Wertarbeit und Disziplin, ist weltweit blamiert.

Nur einen Katzensprung entfernt, in Potsdam, wo der Soldatenkönig und der Alte Fritz wirkten und die Garnisonkirche samt mahnendem Glockenspiel stand, also am Standort der preußischen Tugenden, wird auch der Landtagsneubau offenbar nicht rechtzeitig fertig. Der Radiosender Berlin-Brandenburg meldete, der Generalbauträger BAM könne den Eröffnungstermin Herbst 2013 nicht mehr garantieren.

In Hamburg führte das schier endlose Bau-Elend der Hamburger Elbphilharmonie mit erbitterten Streitigkeiten und gegenseitigen Schuldzuweisungen bereits zur Einsetzung Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Ging man bei den ersten Planungen noch von moderaten 77 Millionen Euro Baukosten aus, so nähern sich aktuelle Schätzungen der Marke von 500 Millionen. 2010 sollte der Bau ursprünglich fertig sein - nun könnte es 2015 so weit sein.

+++Pünktlichkeit und Höflichkeit+++

In Chemnitz werden zur Fertigstellung des umgebauten Hauptbahnhofs 2014 womöglich noch nicht alle dafür benötigten Züge rechtzeitig für das Drehkreuz der gesamten Region fertig. Das Atommüll-Endlager im Schacht Konrad bei Braunschweig kann nicht fristgerecht in Betrieb genommen werden - statt 2014, wie geplant, wohl erst 2019. In einer nagelneuen Spundwand des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven werden 130 Risse entdeckt - ein 25-Millionen-Euro-Schaden.

Und mangelnde Qualität gibt es nicht nur am Bau. Da schummelt gleich eine ganze Riege von Politikern bei ihren Doktorarbeiten. In vielen Unternehmen hat die Globalisierung mit ihrem enormen Konkurrenzdruck die Anstandsregeln verändert. Manche Führungskraft hat keine Skrupel mehr, Zusagen zu brechen, wenn dies der Firma Vorteile bringt. Der hanseatische Handschlag ist ohnehin ein Auslaufmodell.

Werden denn heute allerorten deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit, Anstand und Pflichtgefühl verletzt? Ganz sicher vermuten viele Menschen das im Hinblick auf die Finanzkrise, die auch in Deutschland eine Folge von Gier und Verantwortungslosigkeit einiger weniger war. Mit preußischer Treu und Redlichkeit hatte das nichts zu tun.

Schon 2006 forderte der damalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) die Rückbesinnung auf preußische Tugenden: "Auch wenn es für manchen altmodisch klingt: Bewährte Grundeigenschaften wie Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung sollten in Deutschland wieder mehr Einzug halten." Nur dann könne die in vielen Teilen der Bevölkerung längst verschwundene Grundzuversicht wieder neu entstehen.

Dirk Reimers, geschäftsführender Vorstand der von Helmut Schmidt und anderen Hamburger Honoratioren wie Michael Otto, Gerd Bucerius oder Kurt Körber gegründeten Deutschen Nationalstiftung, sieht dies differenziert. "Die Frage ist zunächst einmal, ob es überhaupt nationale Tugenden gibt, wie man sie den Deutschen zuschreibt. Da wäre ich vorsichtig. Denn das bedeutet gleichzeitig, dass man sie anderen nicht oder nur in geringerem Maße zubilligt. Und wer das tut, landet früher oder später im Rassismus", sagt der Jurist Reimers, der in Hamburg Polizeipräsident und Staatsrat für Inneres war.

Doch es gebe natürlich Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft als wichtig erkannt und deshalb schon in der Erziehung gefördert würden. "Ich denke, dass in einem hoch industrialisierten Staat wie Deutschland Tugenden wie Pünktlichkeit oder Genauigkeit eine gute und eine schlechte Seite haben", sagt Reimers. "Dass ich mit Organisationstalent, mit Pünktlichkeit und Fleiß auch ein KZ betreiben könnte, wie Oskar Lafontaine gesagt hat, ist zwar richtig. Aber falsch ist es, diese Tugenden deswegen zu verdammen und zu 'Sekundärtugenden' zu erklären. Als Reaktion auf Kaiserzeit und Drittes Reich haben wir in eine falsche Richtung überreagiert und diese Tugenden in Bausch und Bogen diskreditiert. Das war ein schwerer Fehler, denn wir brauchen sie zum Überleben."

Gelebte Tugenden sind nicht zuletzt ein Produkt der jeweiligen Erziehung. Den Strömungen der Antipädagogik und der antiautoritären Erziehung, die mehr oder weniger auf tradierte bürgerliche Erziehungswerte verzichten, tritt seit Jahren etwa der Pädagoge und Theologe Bernhard Bueb entgegen. 2006 forderte Bueb in seinem ebenso programmatischen wie umstrittenen Buch "Lob der Disziplin - eine Streitschrift" die Rückkehr zu Sekundärtugenden wie Disziplin, Gehorsam, Pünktlichkeit und Ordnungssinn - was ihm prompt den Vorwurf einer "ungehemmt totalitären" und "schwarzen" Pädagogik eintrug. In einem Interview mit dem "Spiegel" sagte Bueb, ehemals Leiter des Elite-Internats Schloss Salem, Deutschland sei seit dem Nationalsozialismus eine "beschädigte Nation".

Die Sekundärtugenden hätten damals im Dienst einer unmenschlichen Idee gestanden. "Der lange Arm Hitlers hindert uns noch immer daran, Disziplin selbstverständlich einzufordern. Doch die Zukunft Deutschlands hängt von der Rückkehr zur Disziplin ab."

Mit dieser Forderung hat die Kommunikations- und InternetexpertinNina Grenningloh-Reyes, 1974 in Deutschland geboren und seit 2004 in den USA lebend, kein Problem. In einem Netzbeitrag pries sie die von ihren Eltern und Lehrern mit Nachdruck vermittelten deutschen Werte - "Freiheit, Frieden, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Tradition, starke Arbeitsethik und Sauberkeit" - und Tugenden - "Disziplin, Treue, Innovation, Organisation, Kreativität, Motivation, Fleiß" - sogar als vorzügliches Mittel an, um mit anderen Menschen besser auszukommen. Wie man mithilfe deutscher Werte und Tugenden besser kommuniziert, erläuterte Grenningloh-Reyes den Amerikanern in fünf Kapiteln, die mit Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Organisation, Sauberkeit und Qualität überschrieben sind. "Ich kann Ihnen sagen - ich erfülle so ziemlich jedes kulturelle Klischee, wenn es um die Werte und Tugenden der deutschen Kultur geht", so die Wahlamerikanerin.

Sie habe einige Jobs auch deswegen erhalten, weil sie Deutsche sei und die Amerikaner bei Deutschen solche Tugenden vermuteten, sagte Grenningloh-Reyes im Abendblatt-Gespräch. Doch seien ihr die deutschen Tugenden manchmal auch zum Verhängnis geworden, etwa wenn sie unverblümt eine ehrliche Antwort gab oder wenn sie auf gewohnte Art plante. "Was für mich Organisation und detaillierte Vorausplanung ist, das ist für so manchen amerikanischen Kollegen und Vorgesetzten Zeitverschwendung. Da werden Aktion und Spontaneität geschätzt - das Wann und Wie bleibt oftmals zweitrangig."