Missbrauchsbeauftragte Bergmann legt Bericht vor und empfiehlt Entschädigungen. Immer noch melden sich jeden Tag 40 Opfer.

Berlin. Es ist 14 Minuten vor Mitternacht, als Christine Bergmann eine E-Mail erreicht. Datum: Dienstag, 21. September 2010, an die unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Betreff: Wer glaubt schon einem Kind.

"Liebe Frau Bergmann", beginnt die E-Mail, "heute bin ich eine 66-jährige Frau, der es immer noch schwerfällt, darüber zu sprechen oder darüber zu schreiben." Was dann erzählt wird, ist die Geschichte eines fünf Jahre alten Mädchens, das von dem Freund seiner Mutter missbraucht wird. Einmal, zweimal, auf dem Weg ins Dorf, auf der Toilette. Es ist eine Geschichte voller Schmerz und des Alleingelassenseins, weil niemand dem Kind glaubt. Weil kein Erwachsener zuhört. "Eigentlich", schreibt die Frau mehr als 60 Jahre später, "ist man doppelt geschändet, zuerst vom Täter, danach von den Erwachsenen, die einen nicht hören können oder wollen, dann vom verlorenen Vertrauen in sich und die Gesellschaft."

14 Monate hat Bergmann Nachrichten wie diese gelesen. 13 000 Briefe insgesamt, dazu 2000 Telefonanrufe. Nach den schweren Missbrauchsfällen, die 2010 an kirchlichen, aber auch nicht-konfessionellen Schulen und Einrichtungen wie dem Canisius-Kolleg in Berlin oder im Kloster Ettal bekannt wurden, war die 71-jährige Ex-Familienministerin (SPD) von der Bundesregierung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Institutionen und in Familien berufen worden. Mit einem Team von 60 Leuten wertete sie Berichte aus, Psychotherapeuten und Opferverbände wurden angehört. Gestern legte Bergmann ihren 300 Seite umfassenden Abschlussbericht vor - und präsentierte Empfehlungen für die Politik.

Vor allem Opfer bereits verjährter Fälle können jetzt auf finanzielle Hilfen hoffen, die laut Bergmann auch als Anerkennung des Leides dienen sollen. Fand der Missbrauch in Kirchen, Schulen oder anderen Einrichtungen statt, sollen diese nach dem Willen Bergmanns eine einmalige Entschädigung zahlen, die sich an dem Schmerzensgeld orientiert, das das Opfer auch vor Gericht hätte erzielen können. Die Spanne reicht hier von 1500 Euro bis 50 000 Euro. Auch die rückwirkende Übernahme von Therapiekosten sowie die Einrichtung einer internen Beschwerdemöglichkeit gehört zu den Empfehlungen. Geht es um sexuellen Missbrauch in Familien, müsse der Bund für Therapiekosten aufkommen. "Keiner kann sagen, wie viel es sein wird", sagte Bergmann. Eine Therapie von 50 Stunden koste etwa 5000 Euro. Mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) habe sie noch nicht gesprochen, aber "ich gehe davon aus, dass diesen Empfehlungen gefolgt wird".

Bergmann forderte zudem eine Anhebung der Verjährungsfristen für Schadenersatzansprüche auf 30 Jahre, gerechnet ab dem 21. Lebensjahr. Ein bereits bestehender Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Opferrechte sieht dagegen vor, dass die Verjährungsfrist von bisher drei auf 30 Jahre verlängert wird, aber gerechnet ab dem Tatzeitpunkt. Insofern gilt: Beschlossen ist noch nichts. Bergmanns Empfehlungen gehen zunächst an den runden Tisch zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, das letzte Wort haben dann Bundestag und Bundesregierung. Vor allem die Frage, wer welche Kosten in welcher Höhe übernimmt, dürfte noch für einigen Streit sorgen.

SPD-Vizechefin Manuela Schwesig forderte, dass Bergmann weitermachen solle. "Die Beauftragte hat eine hervorragende Arbeit geleistet, die unbedingt fortgesetzt werden muss", sagt Schwesig dem Abendblatt. "Die Betroffenen benötigen nach wie vor diese Anlaufstelle. Dies zeigen die vielen Opfer, die sich bei Frau Bergmann und ihren Mitarbeitern gemeldet haben." Der von der Beauftragten eingeleitete Aufarbeitungsprozess sei von hohem Wert für unsere Gesellschaft insgesamt. "Wir brauchen ein einheitliches Hilfsmodell für alle Opfergruppen, ganz gleich, ob sie aus dem Westen oder aus dem Osten kommen, ganz gleich, ob ihnen das Leid in einer Familie, in einer Schule, oder einem Heim in der ehemaligen DDR widerfahren ist", forderte Schwesig.

Bergmann selbst erklärte, noch mindestens bis Herbst für Opfer erreichbar zu sein. Aber auch danach soll - anders als geplant - die Anlaufstelle erhalten bleiben. "Mit den Empfehlungen ist die Aufarbeitung nicht abgeschlossen, dies kann nur ein erster Schritt sein", sagte sie. Noch heute wendeten sich jeden Tag rund 40 Betroffene an sie. "Das Thema muss bleiben. Der Bedarf ist noch da."