Während Kabul erneut von einem schweren Anschlag erschüttert wird, ziehen Institute eine vernichtende Bilanz des Einsatzes am Hindukusch.

Hamburg/Kabul. Führende deutsche Friedensforscher haben der westlichen Afghanistanstrategie ein miserables Zeugnis ausgestellt. "Die Bilanz nach fast neun Jahren Afghanistankrieg ist katastrophal. Die bisherige Afghanistanpolitik ist gescheitert", erklärten die Fachleute von fünf Forschungsinstituten bei der Vorstellung ihres jährlichen Friedensgutachtens gestern in Berlin. Das Friedensgutachten ist ein gemeinsames Jahrbuch der fünf wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland.

Die Institute meldeten Zweifel an, ob sich die aufständischen Taliban zurückdrängen ließen und ein funktionsfähiger Staat entstehe. Auch vor dem Hintergrund des von den USA und ihren Verbündeten jüngst eingeleiteten Kurswechsels in Afghanistan sei ein Erfolg kaum absehbar. Die USA und ihre Nato-Verbündeten, darunter Deutschland, hatten sich in den vergangenen Monaten darauf verständigt, die militärische Sicherheit in dem Land schrittweise in die Hände der Afghanen zu legen und im Gegenzug die Ausbildung von einheimischen Soldaten und Polizisten zu verstärken. Ab Mitte 2011 soll der Abzug der rund 90 000 Soldaten der Nato-geführten Internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf und dem von den USA geleiteten Anti-Terror-Einsatz Operation Enduring Freedom aus dem Land am Hindukusch beginnen.

Die Verfasser des Friedensgutachtens betonen, es gebe in der momentanen Lage keine eindeutigen Empfehlungen für das beste Vorgehen. "Umstritten ist, welche Option die am wenigsten schlechte ist", heißt es in der Analyse unter Verweis auf einen Vergleich der neuen Strategie des Westens mit anderen Optionen, etwa einem schnelleren Abzug oder einer Fortsetzung des militärischen Engagements.

"Erfolg versprechend ist leider gar nichts, auch wir Friedensforscher sind ratlos, wie sich Afghanistan stabilisieren ließe", sagte der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, Michael Brzoska, dem Abendblatt. Sein Institut ist Mitherausgeber des Friedensgutachtens. Die Voraussetzungen für einen Erfolg der neuen Strategie in Afghanistan seien eher schlecht: "Die Amerikaner wollen die Aufständischen isolieren und die Sicherheit in der Bevölkerung erhöhen. Aber die Trennlinie zwischen Zivilisten und Aufständischen verläuft fließend. Ich bezweifele, dass diese Strategie so funktionieren wird", sagte Brzoska.

Wie bedenklich die Lage in Afghanistan ist, zeigte sich erst gestern wieder, wenige Stunden bevor die Studie vorgestellt wurde. Bei dem schwersten Anschlag in Kabul seit mehr als einem Jahr kamen in der afghanischen Hauptstadt 18 Menschen ums Leben, darunter sechs Nato-Soldaten. Mitten im morgendlichen Berufsverkehr jagte sich ein Attentäter mit seinem mit Sprengstoff beladenen Wagen auf einer viel befahrenen Straße im Westen Kabuls neben einem Isaf-Konvoi in die Luft.

Bei der heftigen Explosion seien 47 Zivilisten verletzt worden, teilte das afghanische Innenministerium mit. Neben fünf Nato-Fahrzeugen seien etwa ein Dutzend Zivilfahrzeuge beschädigt worden, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Die meisten Opfer warteten am Straßenrand gerade auf den Bus, als der Attentäter den Sprengstoff zündete. Die radikalislamischen Taliban bekannten sich zu der Tat.

Dass man trotz solcher Taten mit den Taliban in Verhandlungen treten müsse, um dauerhaften Frieden zu erreichen, fordern die Friedensforscher. Keine Konfliktpartei dürfe von vornherein von Friedensverhandlungen ausgeschlossen werden. Dieser Friede habe allerdings seinen Preis. Wenn traditionelle afghanische Machtstrukturen stärker berücksichtigt würden, müssten Abstriche bei Demokratie- und Menschenrechtsstandards gemacht werden. Trotz der jüngst angekündigten Offensive der Taliban gegen die afghanische Regierung und die Isaf-Truppen glaubt auch Brzoska, dass insgeheim schon an einer politischen Lösung des Konflikts gearbeitet wird. "Ich vermute, dass die Regierung Karsai, möglicherweise auch Teile der US-Regierung, darauf setzen, eine politische Kompromisslösung mit den Taliban zu erreichen." Die gegenwärtigen Kämpfe seien dann nur ein Kräftemessen, um die Machtverhältnisse der verschiedenen Kriegsparteien in einer zukünftigen gemeinsamen Regierung festzulegen.

Unterdessen hat das Friedensgutachten die politische Debatte um den Afghanistaneinsatz erneut angeheizt. Die friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Christine Buchholz, bezeichnete das Gutachten als "schallende Ohrfeige für die Regierung Merkel". Eine Kehrtwende der deutschen Politik in Afghanistan sei dringend geboten.

Die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, warnte davor, einen Gegensatz zwischen dem Ziel des dauerhaften Friedens und der Förderung von Demokratie und Menschenrechten zu konstruieren. Eine Zusammenarbeit mit afghanischen Stammesführern sei notwendig. Menschenrechtliche Standards dürften dafür jedoch nicht leichtfertig aufgegeben werden. Auch in der deutschen Bevölkerung ist die Zustimmung zu dem Afghanistan-Einsatz zuletzt gesunken. Mehr als 70 Prozent wünschen sich Umfragen zufolge einen baldigen Abzug der Bundeswehr.